Die Satanischen Verse
»Dann begannen die Visionen, die Regenbogen, die sich über den Himmel schlängelten, die tanzten, und die Strahlen der Sonne, die sich wie ein Wasserfall über uns ergossen, und da waren Engel, die anderen hatten keine Witze gemacht. Ich habe sie gesehen, und Sherpa Pemba auch. Zu dem Zeitpunkt lagen wir schon auf den Knien. Seine Pupillen waren ganz weiß, und meine bestimmt auch. Ich glaube, wir wären dort oben wohl gestorben, schneeblind und bergnärrisch, aber dann hörte ich ein Geräusch, einen lauten, scharfen Knall wie von einem Gewehr. Das riss mich raus. Ich musste Pem anschreien, bis auch er sich schüttelte, und wir uns an den Abstieg machten.
Das Wetter änderte sich rapide; ein Schneesturm war im Anmarsch. Die Luft war jetzt schwer, Schwere statt jener Leichtigkeit, jenes Lichtes. Wir schafften es bloß bis zum Treffpunkt, und dort drängelten wir uns alle vier in das kleine Zelt von Lager Sechs in achttausend Meter Höhe. Da oben wird nicht viel geredet. Wir mussten alle noch einmal unseren Everest erklimmen, immer wieder, die ganze Nacht über. Aber irgendwann fragte ich: ›Was war das für ein Geräusch da oben? Hat jemand ein Gewehr abgefeuert?‹ Sie sahen mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Wer würde in dieser Höhe so etwas Blödsinniges tun, sagten sie, und überhaupt, Allie, du weißt verdammt genau, dass nirgendwo auf dem Berg ein Gewehr ist. Sie hatten natürlich recht, aber ich konnte mich genau daran erinnern: Wumm Bumm, Schuss und Echo. Das war’s«, schloss sie abrupt. »Das Ende. Die Geschichte meines Lebens.« Sie nahm einen Stock mit Silberknauf und wandte sich zum Gehen. Die Lehrerin, Mrs. Bury, trat vor die Klasse, um die üblichen Plattit üden abzugeben. Doch die Mädchen ließen sich nicht so leicht ab speisen. »Ja, was war es dann?« fragten sie beharrlich; und Allie, die plötzlich zehn Jahre älter aussah als ihre dreiunddreißig, zuckte die Achseln. »Kann ich nicht sagen«, meinte sie. »Vielleicht war es Maurice Wilsons Geist.« Sie verließ das Klassenzimmer, schwer auf ihren Stock gestützt.
Die Stadt - das Große London, yaar, und kein bisschen weniger! - präsentierte sich ganz in Weiß, wie ein Trauernder bei einer Beerdigung. Wessen Beerdigung, verdammt noch mal, fragte sich Gibril Farishta erregt, meine nicht, das will ich doch verdammt hoffen und glauben. Als der Zug in die Victoria Station einfuhr, sprang er heraus, ohne zu warten, bis er vollständig zum Stehen gekommen war, verdrehte sich dabei das Fußgelenk und ging zu Boden, lag unter den Gepäckwagen und dem Hohnlächeln der wartenden Londoner; hielt im Fallen seinen mittlerweile ziemlich ramponierten Hut fest. Rekha Merchant war nirgendwo zu sehen, und Gibril ergriff die Gelegenheit und rannte durch die sich zerstreuende Menge wie ein Besessener, nur um sie an der Fahrkartensperre wiederzutreffen, wo sie, unsichtbar für aller Augen außer den seinen, einen Meter über dem Boden geduldig auf ihrem Teppich schwebte.
»Was hast du vor«, platzte er heraus, »was willst du von mir?« -»Dich fallen sehen«, entgegnete sie sofort. »Sieh dich um«, fügte sie hinzu, »ich hab schon einen ganz schönen Narren aus dir gemacht.«
Die Leute traten zur Seite neben Gibril, dem wilden Mann mit dem übergroßen Mantel und dem Landstreicherhut, der redet ja, mit sich selbst, sagte eine Kinderstimme, und die Mutter antwortete: Psst, mein Schatz, es ist nicht nett, sich über Kranke lustig zu machen. Willkommen in London. Gibril Farishta lief auf die Treppe zu, die zur U-Bahn hinunterführte.
Rekha auf ihrem Teppich ließ ihn gehen.
Doch als er in größter Eile auf dem Bahnsteig Nord der Victoria Line ankam, sah er sie wieder. Diesmal war sie ein Farbfoto auf einem Riesen-Werbeplakat an der Wand hinter dem Gleis und pries die Vorzüge des internationalen Direktwählsystems an. Lassen Sie Ihre Stimme auf einem Zauberteppich nach Indien fliegen, riet sie. Das geht auch ohne Dschinns und Wunderlampen. Er stieß einen lauten Schrei aus, was wiederum seine Mitreisenden dazu veranlasste , an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln, und floh auf die andere Seite, zu Bahnsteig Süd, wo gerade ein Zug einfuhr. Er sprang hinein, und da saß ihm Rekha Merchant gegenüber, den Teppich zusammengerollt auf den Knien. Mit einem Knall schlossen sich die Türen hinter ihm.
An diesem Tag floh Gibril Farishta in jede Richtung des Londoner U-Bahn-Netzes, und Rekha Merchant fand ihn, wo er auch hinfuhr; sie saß neben
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