Die Satanischen Verse
schlaflos, die Augen weit aufgerissen in dem schwachen gelben Licht, und starrt in die Zukunft, der bärtige, beturbante Imam.
Wer ist er? Ein Verbannter, ein Mann im Exil. Nicht zu verwechseln, nicht in einen Topf zu werfen mit all den anderen Worten, mit denen die Leute so um sich werfen: Emigrant, Asylant, Flüchtling, Immigrant, Schweigen, Schlauheit. Das Exil ist ein Traum von der glorreichen Rückkehr. Das Exil ist eine Vision von der Revolution: Elba, nicht St. Helena. Es ist ein unendliches Paradox: der Blick nach vorn durch den ewigen Blick zurück. Das Exil ist ein Ball, der hoch in die Luft geschleudert wird. Und dort hän genbleibt: gefroren in der Zeit verwandelt in eine Fotografie, eine aufgehobene Bewegung; in unmöglicher Position über seiner heimatlichen Erde, wartet er auf den unvermeidlichen Augenblick, wenn die Fotografie sich bewegen und die Erde ihr Eigentum zurückfordern muss . Dies sind die Gedanken des Imam. Sein Zuhause ist eine Mietwohnung . Sie ist ein Warteraum, eine Fotografie, Luft. Die dicke Tapete - olivgrüne Streifen auf cremefarbenem Untergrund - ist ein wenig verblichen, genug, um die helleren Rechtecke und Ovale zu betonen, die erkennen lassen, wo früher einmal Bilder hingen. Der Imam ist der Feind der Bildnisse. Als er einzog, glitten die Bilder geräuschlos von den Wänden und verdrückten sich aus dem Zimmer, wichen seiner unausgesprochenen, wütenden Missbilligung . Einige Darstellungen dürfen jedoch bleiben. Auf dem Kaminsims hat er eine kleine Sammlung von Postkarten stehen, alle mit konventionellen Motiven aus seinem Heimatland, das er einfach Desch nennt: ein Berg, der sich über einer Stadt erhebt; eine malerische Dorfszene unter einem gewaltigen Baum; eine Moschee. Aber an der Wand in seinem Schlafzimmer, der harten Pritsche gegenüber, auf der er hegt, hängt eine mächtigere Ikone, das Portrait einer Frau von außergewöhnlicher Härte, berühmt wegen ihres an griechische Statuen erinnernden Profils und ihrer schwarzen Haare, die so lang sind, wie sie groß ist. Eine mächtige Frau, seine Feindin, die Andere; er hält sie in seiner Nähe. Genau wie sie, weit weg in den Palästen ihrer Allmacht, sein Portrait unter ihrem königlichen Gewand umklammern oder es in einem Medaillon an ihrer Kehle verstecken wird. Sie ist die Kaiserin, und ihr Name ist - was sonst? - Aischa. Auf dieser Insel, der Imam im Exil, und zu Hause in Desch, sie. Beide schmieden Mordkomplotte gegeneinander.
Die Vorhänge aus dickem goldenem Samt bleiben den ganzen Tag geschlossen, weil sich sonst das Böse in die Wohnung einschleichen könnte: Fremde, Ausland, das feindselige Volk. Die bittere Tatsache, dass er hier ist und nicht Dort, worauf sich all seine Gedanken richten. Bei jenen seltenen Gelegenheite n, wenn der Imam ausgeht, um in Kensington frische Luft zu schöpfen, im Zentrum eines Vierecks, das von acht jungen Männern mit Sonnenbrillen und ausgebeulten Anzügen gebildet wird, faltet er seine Hände vor dem Bauch und sieht sie mit starrem Blick an, damit keine Spur, kein Teilchen dieser verhassten Stadt - dieser Stätte des Lasters, die ihn demütigt, indem sie ihm Zuflucht gewährt, so dass er ihr trotz all ihrer Lüsternheit, Missgunst und Eitelkeit verpflichtet sein muss - sich wie ein Staubkörnchen in seinen Augen einnisten kann. Wenn er dieses verabscheute Exil verlässt , um im Triumphzug zu dieser anderen Stadt am Fuß des Postkartenbergs zurückzukehren, wird er stolz darauf sein, sagen zu können, dass er diesem Sodom gegenüber vollkommen ignorant geblieben ist; ignorant und dabei unbefleckt, unverändert, rein.
Und ein weiterer Grund für die zugezogenen Vorhänge ist der, dass es um ihn herum natürlich viele Augen und Ohren gibt, die ihm nicht alle wohlgesonnen sind. Die orangefarbenen Gebäude sind nicht neutral. Irgendwo auf der anderen Straßenseite wird es Zoomobjektive geben, Videoausrüstungen, Riesenmikrofone; und immer das Risiko von Heckenschützen. Über und unter und neben dem Imam liegen die unbedenklichen Wohnungen, in denen seine Wachen einquartiert sind, die als Frauen verkleidet durch die Straßen von Kensington bummeln, verschleiert und mit silbrig schimmernden Hakennasen; aber übervorsichtig zu sein hat auch sein Gutes. Für den Mann im Exil ist Paranoia eine Vorbedingung des Überlebens.
Eine Fabel, die er von einem seiner Günstlinge gehört hat, dem amerikanischen Konvertiten, der einmal ein erfolgreicher Sänger war und jetzt als Bilal X
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