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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ihm auf der endlosen Rolltreppe am Oxford Circus, und im vollgepackten Fahrstuhl von Tufnell Park rieb sie sich von hinten an ihm auf eine Art, die sie zu Lebzeiten ziemlich unerhört gefunden hätte. An der Endstation der Metropolitan Line schleuderte sie die Geister ihrer Kinder von den Kronen klauenartiger Bäume, und als er vor der Bank von England ausstieg, um frische Luft zu schnappen, warf sie sich theatralisch von der Spitze eines neoklassizistischen Ziergiebels. Und obwohl er von der tatsächlichen Form dieser vielgestaltigsten und chamäleonartigsten aller Städte keinerlei Vorstellung hatte, wuchs in ihm die Überzeugung, dass sie ihre Form ständig veränderte, während er unter ihr herumrannte, so dass die U-Bahnhöfe offenbar nach dem Zufallsprinzip aufeinander folgten und dauernd die Linien wechselten. Mehr als einmal tauchte er, halb am Ersticken, aus dieser unterirdischen Welt auf, in der die Gesetze von Zeit und Raum nicht mehr galten und versuchte, ein Taxi anzuhalten; nicht eines war dazu bereit, und so war er gezwungen, sich erneut in diesen höllischen Irrgarten zu stürzen, in dieses Labyrinth ohne Ausgang, und seine dramatische Flucht fortzusetzen.
    Schließlich, hoffnungslos erschöpft, ergab er sich der verhängnisvollen Logik seines Wahnsinns und stieg an einer x-beliebigen Haltestelle aus, die er als letzte, bedeutungslose Station seiner weiten und vergeblichen Reise auf der Suche nach der Schimäre Erneuerung ansah. Er stieg hinauf in die herzzerreißende Gleichgültigkei t einer mit Müll übersäten, von Lastwagen verpesteten Straßenkreuzung. Die Nacht war bereits angebrochen, als er unter Aufbietung seiner letzten Reste an Optimismus über die Straße wankte, zu einem unbekannten, durch die ektoplasmische Wirkung der Wolframlampen gespenstisch anmutenden Park. Und als er dort in der Abgeschiedenheit der Winternacht auf die Knie sank, sah er die Gestalt einer Frau, die über das Leichentuch ging, das auf dem Gras lag, und er dachte, es könne niemand anders sein als Rekha Merchant, seine Nemesis, die nun kam, um ihm den Todeskuss zu geben, um ihn hinabzuziehen in eine Unterwelt, die viel tiefer lag als jene, in der sie seinen verwundeten Geist gebrochen hatte. Doch es bedeutete ihm nichts mehr, und als die Frau bei ihm anlangte, war er nach vorn auf die Unterarme gefallen, sein Mantel hing lose an ihm herunter, was ihm das Aussehen eines großen, sterbenden Käfers gab, der aus unerfindlichen Gründen einen schmutzigen grauen Filzhut trug.
    Wie aus großer Entfernung hörte er den schockierten Schrei, der den Lippen der Frau entwich, einen Schrei, in dem sich ungläubiges Erstaunen, Freude und seltsamerweise auch Groll vermischten, und bevor er die Besinnung verlor, begriff er, dass Rekha ihm gestattete, sich einen Moment lang der Illusion hinzugeben, er sei in einem sicheren Hafen gelandet, nur damit ihr Triumph, wenn es endgültig soweit wäre, noch süßer sein würde.
    »Du lebst«, sagte die Frau und wiederholte damit die ersten Worte, die sie jemals an ihn gerichtet hatte. »Du hast dein Leben wieder. Das ist das Entscheidende.«
    Lächelnd schlief er vor Allies Plattfüßen ein. Es schneite.

IV

AISCHA

Selbst die Serien-Träume wandern jetzt hin und her; sie kennen die Stadt besser als er. Und nach den Erlebnissen mit Rosa und Rekha werden die Traum-Welten seines anderen Ichs als Erzengel allmählich genauso real wie die ständig wechselnden Wirklichkeiten, in denen er lebt, wenn er wach ist.
    Diese kommt zum Beispiel seit neuestem zu ihm: ein hochherrschaftlicher Häuserblock, holländischer Stil, in einer Gegend von London, die er später als Kensington kennenlernen wird, zu dem ihn der Traum in schnellem Fluge bringt: vorbei an Barkers Kaufhaus und dem kleinen grauen Haus mit den Doppelfenstern, wo Thackeray Jahrmarkt der Eitelkeiten schrieb, und dem Platz mit dem Kloster, wo immer kleine Mädchen in Uniformen hineingehen, aber nie eines herauskommt, und dem Haus, in dem Talleyrand im Alter lebte, offiziell in der Rolle des französischen Botschafters in London, nachdem er, gleich einem Chamäleon, tausendundeinmal Parteien und Prinzipien gewechselt hatte, und endlich zu einem siebenstöckigen Eckhaus mit grünen, schmiedeeisernen Bal konen bis hinauf zum vierten Stock, und jetzt treibt der Traum ihn die Außenwand des Hauses hoch, und im vierten Stock schiebt er die schweren Vorhänge des Wohnzimmerfensters zur Seite, und schließlich sitzt er da, wie gewöhnlich

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