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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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sich nach vorn zu ihm, Mishal fuhr hinten mit Saladin, vor Blicken geschützt.
    Es war fast vier Uhr früh, als sie Chamcha in dem leeren, geschlossenen Nachtclub zu Bett brachten. Pinkwalla - sein richtiger Name, Sewsunker, wurde von niemandem verwendet -
    hatte in einem Hinterzimmer ein paar Schlafsäcke ausgegraben, und das genügte. Hanif Johnson, der dem furchterregenden Wesen, vor dem seine Geliebte Mishal anscheinend überhaupt keine Angst hatte, gute Nacht sagen wollte, versuchte, ernsthaf t mit ihm zu sprechen. »Du musst verstehen, wie wichtig du für uns sein kannst, es steht mehr auf dem Spiel als nur deine privaten Bedürfnisse«, aber Saladin, der Mutant, schnaubte nur, gelb und schwarz, und Hanif zog sich rasch zurück. Allein mit den Wachsfiguren, konnte Chamcha seine Gedanken wieder auf das Gesicht konzentrieren, das schließlich vor seinem geistigen Auge erschienen war, strahlend, in Licht getaucht, das von einem Punkt hinter seinem Kopf ausging, Mister Perfekto, Götterdarsteller, der immer auf den Füßen landete, dem seine Sünden stets verziehen wurden, den man liebte, lobte, anbetete… das Gesicht, das er in seinen Träumen zu identifizieren
    versucht hatte, Mr. Gibril Farishta, so unzweifelhaft verwandelt in das Abbild eines Engels wie er selbst das Spiegelbild des Teufels war.
    Wen sollte der Teufel verantwortlich machen, wenn nicht Gibril, den Erzengel?
    Die Kreatur auf den Schlafsäcken schlug die Augen auf; Rauch begann, aus ihren Poren zu dringen. Jede der wächsernen Puppen hatte jetzt dasselbe Gesicht, Gibrils Gesicht mit seinem spitz zulaufenden Haaransatz und seinen langen, schmalen, finsteren, attraktiven Zügen. Die Kreatur bleckte die Zähne und stieß einen nicht enden wollenden Schwall pestbringender Luft aus, und die Wachspuppen, allesamt, jede einzelne, lösten sich auf in Pfützen und leere Kleidungsstücke. Die Kreatur legte sich wieder zurück, zufrieden. Und richtete ihre Gedanken auf ihren Widersacher.
    Woraufhin sie ein höchst unerklärliches Pressen, Saugen, Ziehen in sich verspürte; sie wurde von furchtbaren, stechenden Schmerzen gemartert und stieß durchdringende Schreie aus, welchen niemand, nicht einmal Mishal, die mit Hanif in Pinkwallas Wohnung über dem Club geblieben war, nachzugehen wagte. Die Schmerzen wurden immer stärker, und die Kreatur tobte und stampfte und heulte erbärmlich auf der Tanzfläche herum, bis ihr schließlich eine Atempause vergönnt wurde und sie einschlief.
    Als Mishal, Hanif und Pinkwalla sich einige Stunden später in den Clubraum hinunterwag ten, bot sich ihnen ein Anblick furchtbarer Verwüstung, umgestürzte Tische, zerbrochene Stühle, und natürlich jede Wachsfigur - ob gut oder böse, Topsy und Legree - geschmolzen wie Papiertiger, denen man die Luft ausgelassen hatte; und in der Mitte des Schlachtfelds lag schlummernd wie ein Baby, kein mythisches Wesen mehr, keine Ikone mit Hörnern und Teufelsodem, sondern Mr. Saladin Chamcha höchstpersönlich, offenbar wieder in seiner alten Gestalt, splitternackt, aber von gänzlich menschlichem Aussehen und Proportionen, vermenschlicht durch - wel che Schlussfolgerung läge näher? - die furchterregende Konzentration seines Hasses.
    Er öffnete die Augen, die noch immer hell und rot glühten.

2

    Alleluja Cone sah während ihres Abstiegs vom Everest, westlich von Camp Sechs, hinter dem Rock Band, unterhalb des Cho-Oyu-Massivs, eine Stadt aus Eis in der Sonne glitzern.
    Shangri-La, dachte sie kurz; doch dies war kein grünes Tal der Unsterblichkeit, sondern eine Metropolis aus gigantischen Eiszapfen, dünn, spitz und kalt. Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt vom Sherpa Pemba, der sie bat, in ihrer Konzentration nicht nachzulassen, und als sie wieder hinsah, war die Stadt verschwunden. Sie befand sich noch immer in einer Höhe von gut achttausend Metern, doch die Erscheinung der unmöglichen Stadt warf sie zurück, quer durch Raum und Zeit, nach Bayswater, in das Arbeitszimmer mit den alten, dunklen Holzmöbeln und den schweren Samtvorhängen, in dem ihr Vater, der Kunsthistoriker und Picabia-Biograph Otto Cone, in ihrem vierzehnten und seinem letzten Lebensjahr zu ihr gesprochen hatte von der »gefährlichsten aller Lügen, die wir uns im Laufe unseres Lebens anhören müssen«, die seiner Meinung nach die Idee des Kontinuums war. »Wenn jemand versuchen sollte, dir einzureden, dass dieser schönste und schrecklichste aller Planeten irgendwie homogen ist, dass er nur aus miteinander

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