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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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aus Silber, einschließlich eines gewissen Messers mit Silbergriff an der Wand unter der Gipsbüste von Henry Diamond, der von seinem Platz auf dem Eckschränkchen aus zu ihnen herabstarrte, und wenn die Standuhr sechs schlug, goss er zwei Gläser Sherry ein, und sie begann zu reden, aber erst, nachdem sie, zuverlässig wie ein Uhrwerk, den einen Satz gesagt hatte. Die Gute geht immer vier Minuten nach, denn es wäre unhöflich, allzu pünktlich zu sein. Dann fing sie an, ohne sich mit Eswareinmal au fzuhalten, und ob das nun alles stimmte oder nicht, er konnte erkennen, welch wilde, verzweifelte Energie in ihr Erzählen einging, wie sie die letzten Reserven ihrer Willenskraft aufbot, die einzig schöne Zeit, soweit ich mich erinnern kann, sagte sie, und er spürte, dass dieser Lumpensack von Erinnerungsfetzen in Wahrheit ihr Herzstück war, ihr Selbstportrait, ihre Art, in den Spiegel zu sehen, wenn sonst niemand im Raum war, und dass ihr liebster Aufenthaltsort das Silber-Land der Vergangenheit war, nicht dieses baufällige Haus, in dem sie sich dauernd irgendwo anstieß - über Couchtische stolperte, sich blaue Flecke an den Türgriffen holte -, in Tränen ausbrach und rief: Alles schrumpft.
    Als sie, frischvermählt mit dem Anglo-Argentinier Don Enrique von Los Alamos, 1935 mit dem Schiff nach Argentinien reiste, deutete ihr Gatte auf die See hinaus und sagte, das ist die Pampa. Durch bloßes Hinsehen wirst du nie ermessen können, wie groß sie ist, du musst sie durchqueren, musst sie erleben, diese immergleiche Weite, Tag für Tag. In einigen Gegenden ist der Wind so stark wie eine Faust, aber es herrscht vollkommene Stille, er wird dich zu Boden stoßen, aber du wirst niemals etwas hören. Keine Bäume, das ist der Grund: Kein Ombú, keine Pappel, nada. Ach, mit den Ombúblättern musst du übrigens aufpassen. Ein tödliches Gift. Der Wind kann dich nicht umbringen, der Saft dieser Blätter schon. Sie klatschte wie ein Kind in die Hände: Wirklich, Henry, stille Winde, giftige Blätter. Bei dir kling es wie ein Märchen. Henry, mit hellem Haar, weichem Körper, großen Augen und plumper Statur, machte ein erschrockenes Gesicht. O nein, sagte er. So schlimm ist es nicht.
    Sie kam in dieses riesige Land, unter dieses endlose blaue Himmelsgewölbe, weil Henry sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle, und sie ihm die einzige Antwort gegeben hatte, die eine alte Jungfer von vierzig Jahren geben konnte.
    Doch als sie ankam, stellte sie sich eine viel größere Frage: wozu war sie fähig in dieser unermesslichen Weite? Wozu würde sie den Mut haben, wohin konnte sie wachsen? Zum Guten oder zum Schlechten, sagte sie sich: nur neu musste es sein. Unser Nachbar, Dr. Jo rge Babington, erzählte sie Gibril, der mochte mich nicht; er erzählte mir immer Geschichten von den Engländern in Südamerika, alles so lose Vögel, sagte er verächtlich, Spitzel und Banditen und Plünderer. Sind Sie denn lauter exotische Wesen in Ihrem kalten England? fragte er und beantwortete die Frage gleich selbst, Señora , ich glaube nicht.
    In diesen Sarg von einer Insel gepfercht, müssen Sie nach weiteren Horizonten suchen, um Ihre verborgenen Seiten auszuleben.
    Rosa Diamonds Geheimnis ihre Fähigkeit zu lieben war so groß, dass eines bald klar wurde; ihr armer, nüchterner Henry würde ihr nie gerecht werden, weil jegliches romantische Gefühl, das diese wabblige Gestalt aufbringen konnte, seinen geliebten Vögeln vorbehalten war. Kornweihe, Wehrvogel, Schnepfe. In den kleinen Seen der Umgebung verbrachte er seine glücklichsten Tage, in einem kleinen Ruderboot, zwischen den Binsen, ein Fernglas vor den Augen. Einmal, auf einer Eisenbahnfahrt nach Buenos Aires, brachte er Rosa in Verlegenheit, indem er, die Hände vor dem Mund zusammengelegt, seine schönsten Vogelrufe im Speisewagen vorführte: Rosalöffler, Ibis vanduria, Trupial. Warum kannst du mich nicht so lieben, wollte sie fragen. Tat es aber nie, denn für Henry war sie ein guter Kamerad, und Leidenschaft war ein exzentrisches Verhalten anderer Rassen. Rosa wurde oberste Befehlshaberin des Gutes und bemühte sich, ihre verruchten Sehnsüchte zu unterdrücken. Sie gewöhnte sich an, nachts in die Pampa hinauszugehen, sich auf den Rücken zu legen und die Milchstraße über sich zu betrachten, und manchmal, unter dem Einfluss dieses strahlenden Stromes von Schönheit, begann sie, am ganzen Leibe zu zittern, in tiefem Entzücken zu erbeben und eine unbekannte Melodie zu

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