Die satten Toten: Ein Fall für Karl Kane (Band 2) (German Edition)
nicht vorstellen, dass Lennon die Polizei auf seine Geschäfte aufmerksam machen wollte.
»Tom? Was ist denn?«
»Vor drei Tagen wurde in Schottland der Leichnam eines Mädchens an Land gespült, am Mull of Kintyre. Anscheinend lag sie schon eine ganze Weile im Wasser. Die schottische Polizei glaubt, dass es sich um Martina Ferris handelt. Die haben mich gebeten, ihre zahnärztlichen Unterlagen zur Identifizierung zu schicken.«
»Oh, Scheiße.«
»Sie haben mir Fotos von der Leiche geschickt. Ich würde sagen, sie ist es, Karl. Das fehlende Auge ist auf den Bildern klar zu erkennen. Tut mir leid.«
»Haben … haben die gesagt, wie sie gestorben ist? Ertrunken?«
Hicks antwortete erst nach einer kurzen Pause.
»Nein. Kein Unfall. Sie wurde ermordet, genau wie die anderen Mädchen.«
Karl spürte, wie ihm das Blut von den Füßen bis hinter die Augen stieg.
»Karl? Bist du noch da?«
»Was? Oh … ja. Noch da … danke, dass du mich angerufen hast. Ich rede erst mit Martinas Schwester, wenn du alles bestätigt hast. Rufst du mich an, wenn der Leichnam überführt wird oder du etwas Genaues weißt?«
»Ja. Klar.«
»Danke, Tom. Wir unterhalten uns später weiter«, sagte Karl und beendete das Gespräch mit einem Tastendruck.
»Was ist denn, Karl?«, fragte Naomi mit benommener Stimme und blinzelte die Morgenmüdigkeit aus den Augen. »Wer war das?«
»Tom Hicks. Die Polizei in Schottland hat eine Leiche gefunden. Vermutlich Martina Ferris. Ist aber noch nicht bestätigt.«
»Martina … oh, das arme Ding«, sagte Naomi und schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie ist sie gestorben?«
»Höchstwahrscheinlich ermordet.«
»Mein Gott … wie?«
»Wir müssen den Autopsiebericht abwarten«, sagte Karl, der der ohnehin schon verstörten Naomi die grausigen Einzelheiten ersparen wollte.
»Was ist mit Geraldine? Jemand muss es ihr sagen.«
»Wir warten, bis wir eine definitive Antwort von Tom haben. Übertriebene Eile nützt keinem.«
Naomi nickte zustimmend. »Du hast recht. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass es nicht Martina ist. Oder?«
Karl antwortete nicht.
Kapitel Zweiundzwanzig
»Grausamkeit hat ein menschliches Herz …«
William Blake, A Divine Image
Am Spätnachmittag hämmerte Karl orientierungslos in die Tasten seiner Royal Quiet DeLuxe und versuchte verzweifelt, das Manuskript seines jüngsten Romans zu beenden. Hicks’ Anruf am Morgen hatte ihn aus der Fassung gebracht. Jedes Mal, wenn er ein Wort schreiben wollte, tauchte Martinas Gesicht vor ihm auf.
»Hat keinen Sinn«, sagte er seufzend und hoffte, Naomi würde ihm ihre Aufmerksamkeit schenken. Er brauchte etwas Trost und griff auf die älteste Ausrede der literarischen Zunft zurück. »Schreibblockade.«
Sie beachtete ihn nicht und sah weiter unverwandt zum Fernseher.
»Es hat keinen Sinn, verdammt«, wiederholte er lauter. »Ich kann mich nicht konzentrieren.«
»Hm? Hast du was gesagt, Karl?«
»Ich sagte … vergiss es.«
Als Karl gerade wieder die Finger auf die Tastatur legte, läutete es.
»Schon gut. Bleib sitzen, Naomi. Ich hab sowieso nichts Besseres zu tun«, sagte er verhalten sarkastisch und ging die Treppe hinunter.
Als Karl die Tür öffnete, sah er Sean vor sich, den Briefträger.
»Pünktlich wie immer, Sean. Ich könnte meine Uhr nach dir stellen – wenn sie sechs Zeiger hätte.«
»Heute kann ich definitiv nichts dafür, Karl«, antwortete Sean leutselig. »Die Schlange bei McDonald’s war schrecklich lang. Es war so voll, man hätte meinen können, die verschenken ihre Big Macs.«
»Solltest du nicht zuerst die Post zustellen?«
»Mit leerem Magen?«
»Okay. Das versteh ich. Was hast du denn Schönes für mich?«
»Wichtig ist, was ich nicht für dich habe.«
»Ich mag Briefträger, die in Rätseln sprechen. Und was hast du
nicht
für mich?«
»Ein dickes, klobiges Päckchen mit einem deiner abgelehnten Manuskripte.«
»Zum Brüllen. Diese Stadt ist voller Witzbolde. Gib mir einfach die Post und geh noch ein Happy Meal essen. Das dürfte uns dann alle happy machen.«
Oben sah Karl die Post durch, entsorgte den Müll und wünschte sich, er hätte dasselbe mit den drei Rechnungen machen können, die ihm wie Blei in der Hand lagen.
»Was Wichtiges, Karl?«, fragte Naomi, die den Blick ein paar Sekunden vom Bildschirm abwandte.
»Ja, drei Briefe von einem Arsch namens Rechnung und ein großer, geheimnisvoller Umschlag für mich«, sagte Karl und riss das braune Couvert auf.
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