Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
habe. Was müssen Sie jetzt von mir denken? Schrecklich … Aber das ist jetzt vorbei. Und ich habe ihn seit dem auch nicht wiedergesehen. Da bin ich wirklich froh. Ich hab so Angst gehabt, dass der jetzt ständig vorm Haus rumhängt oder so. Aber ich glaub, er hat schon eine Neue. Da hat er ja keine Zeit für so was …«
Am Tag des gemeinsamen Gespräches traf ich Herrn Scholz am Haupteingang des Gebäudes. Wir gingen zusammen durch das großzügige Treppenhaus in den ersten Stock, wo sich die Räume des Jugendamtes befanden.
Herr Scholz sah noch schlimmer aus als bei unserem Termin einige Tage zuvor, denn inzwischen hatten sich die Hämatome bunt verfärbt, und die beiden Schnitte waren entzündet und somit beinahe doppelt so dick. Dass dies ein Vorteil für den weiteren Verlauf sein könnte, hätte ich nie vermutet.
Ich klopfte an der Tür des Besprechungsraumes. Herrn Oppermanns lethargisches »Jaaa …« war zu hören. Und dann geschahen recht viele Dinge gleichzeitig.
Ich öffnete die Tür, trat ein, Frau Scholz schrie laut auf, rannte los, schubste dabei Frau Lindner, die Familienhelferin, beiseite und stürzte sich auf Herrn Scholz.
Es ging alles so schnell, dass wahrscheinlich niemand von uns hätte eingreifen können, selbst wenn wir im aktiven Verhindern von Gewalttaten etwas mehr Übung gehabt hätten. Wir hatten so gut wie keine und sahen alle regungslos und mit schreckgeweiteten Augen zu, wie Herr Scholz zurücktaumelte und beinahe zu Boden gegangen wäre.
Frau Scholz klammerte sich an ihn. Kreischte.
Und … küsste ihn?
»Mein armer, armer Liebling! Was ist denn nur mit dir passiert? Oh, mein armer Knuddelbär!«
W…??
Ich hatte schon so manche Überraschung bei gemeinsamen Gesprächen beim Jugendamt erlebt, aber noch nie eine Betüttel-knutsch-Attacke bei sich streitenden Paaren.
Herr Scholz wirkte zunächst ebenfalls überfordert, denn wahrscheinlich hatte er auch mit Wut und möglicherweise Handgreiflichkeiten gerechnet, nicht aber mit einer ihn überrollenden Welle aus Mitleid, Fürsorge und Liebkosungen.
»Mein armer Liebling! Wer hat dir das angetan?!«
Stimmt … Das hatte ich in meinem Gespräch mit ihm aufgrund meines Kneipenschlägerei-Gehirnkinos vollkommen versäumt zu fragen.
»Na, der Rainer. Ich dachte, du hättest …«
Weiter kam Herr Scholz nicht, denn Frau Scholz ließ erneut einen ohrenbetäubenden Schrei los.
»Den mach ich fertig! Dieses Schwein!!«
Offensichtlich kannte Frau Scholz diesen ominösen Rainer.
Ihre Wut hielt nicht lange an. Schon hielt sie wieder Herrn Scholzens Gesicht in beiden Händen, küsste seine Wunden und schluchzte: »Oh, mein armer Liebling! Und das alles ist meine Schuld. Das hat der Rainer nur gemacht, weil ich ihn so wütend gemacht hab. Das tut mir so leid! Oh …«
Alles Weitere ging in haltlosem Schluchzen unter.
Während ich noch heimlich in meiner Akte blätterte, um nachzusehen, ob es sich bei »Rainer« und »Herrn Ziegler« um ein und dieselbe Person handelte, griff Frau Lindner ein und schaffte so etwas wie Ordnung.
»Ich schlage vor, dass wir uns jetzt erst einmal alle setzen, einen Keks essen und uns beruhigen.«
Gute Idee!
Ich hatte inzwischen den Namen »Rainer Ziegler« in der Akte entdeckt und fand den Gedanken an Kekse äußerst verlockend.
Auch die Tatsache, dass Frau Lindner sofort begonnen hatte, Struktur in das Chaos zu bringen, gefiel mir.
Als alle Platz genommen hatten (Frau Scholz neben Herrn Scholz, Händchen haltend), war es auch Frau Lindner, die das Gespräch eröffnete. Herr Oppermann war ohnehin nur noch körperlich anwesend. Sein Geist war hinter der Zimmerpflanze in Deckung gegangen und buddelte sich gerade ein Loch.
Frau Lindner machte ihre Sache ganz wunderbar.
Sie kürzte allzu ausschweifende, gefühlsbeladene Gesprächsinhalte von Frau Scholz ab, lenkte den Fokus immer wieder auf die Kinder und deren Zukunft und hatte innerhalb von knapp zwei Stunden nicht nur die weitere Vorgehensweise geplant, sondern auch das Vertrauen der Eltern gewonnen. Sie stellten sofort einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung und vereinbarten Termine mit Frau Lindner für den nächsten Tag.
Und ich konnte mich nicht nur während des Gespräches einigermaßen entspannt zurücklehnen, sondern war mir auch sicher, dass sich dieses wackelige Familiensystem mit Frau Lindners Hilfe schon bald stabilisieren würde.
Herr Ziegler, der wegen Körperverletzung noch unter Bewährung gestanden hatte, würde
Weitere Kostenlose Bücher