Die Schanz
gehört?
Er legte den Stift aus der Hand und betrachtete seine Fingernägel. Arends Geschichte war bisher reine Spekulation, aber sie machte ihn unruhig. «Jugoslawen? Holländer?» schrieb er schließlich noch auf. Dann nahm er sich den Plan von Schenkenschanz vor, den Cox auf dem Kopierer vergrößert hatte, und übertrug die Namen von der Einwohnerliste auf die einzelnen Häuser. Sie würden bei Nummer 1 auf der linken Seite beginnen – Molenkamp –, zur Schule hoch, die kleine Gasse, Haus für Haus, dann von der Kneipe zurück über die Rote Ecke bis zum vorderen Fluttor. Anschließend würden sie zu den Höfen fahren, er nummerierte auch sie durch.
Während er duschte, sich rasierte und ankleidete, während er frühstückte und danach Katharina in den Kindergarten brachte, liefen in seinem Kopf die verschiedensten Szenarien ab. Sie endeten alle vor einer Wand, und als er um halb neun den Leiter des Technischen Hilfswerks anrief, war seine Laune auf dem Nullpunkt.
Die Bundeswehr wäre bereits dabei, neben der festgefrorenen Fähre eine Pontonbrücke zu installieren, die auch schwimmfähig sei, falls Tauwetter einsetzte, erklärte der Mann. Allzu viel Zeit könne man sich dabei nicht lassen, weil die Milch bei der Sammelstelle schnell abgeholt werden müsse. Er war besorgt: «In Süddeutschland regnet es seit zwei Wochen ohne Unterlass, die Mosel führt schon Hochwasser, und der Rhein steigt mit großer Geschwindigkeit. Wenn die Welle zu uns runterkommt und das Eis in Bewegung gerät, dann gnade uns Gott. Im Moment renne ich von einer Krisensitzung zur nächsten. Die Holländer haben an prekären Stellen bereits Sprengladungen angebracht.»
«Sprengladungen?», hakte Toppe nach.
«Falls die Eisschollen sich zu Dämmen auftürmen. Wenn man die nicht wegsprengt, saufen ganze Ortschaften ab, und zwar nicht nur auf der holländischen Seite.»
«Und die Schanz wäre dann bedroht.»
«Aber nicht zu knapp! Am liebsten würden wir die Insel jetzt schon räumen lassen oder wenigstens das Vieh rausholen, aber die Herrschaften stellen sich mal wieder quer. ‹Es kommt nicht so hoch› – ich kann es nicht mehr hören.»
«Aber da muss es doch Möglichkeiten geben.»
«Die gibt es auch. Wenn das Wetter sich nicht beruhigt, lässt der Kreis das Dorf noch vor dem Wochenende zwangsevakuieren.»
Er versprach, Toppe anzurufen, sobald die Brücke fertig sei.
Der Vormittag verging, aber das THW meldete sich nicht. Toppe machte sich an den Hausputz, während Astrid die letzten Kartons auspackte und Schränke einräumte. Zweimal rief Ackermann an. «Wenn die zwangsevakuieren, wird mir dat auch zu brenzlig», sagte er. «Dann bring ich meine Familie in Sicherheit, na’ Cuyk zu meinem Schwager.»
Gegen halb drei endlich klingelte das Telefon, der Altrhein sei wieder passierbar.
Toppe hatte gerade aufgelegt, als Ackermann vor der Tür stand. «Ich hab die Warterei nich’ mehr ausgehalten, bin na’ Düffelward gedüst un’ hab den Jungs bei de Montage zugeguckt. Ich dacht’, ich hol dich ab, wer müssten jetz’ rüberkönnen.»
Sie saßen noch nicht ganz im Auto, als Toppes Handy wieder dudelte. «Das Ding macht mich noch verrückt!»
«Ha!» Ackermann lachte. «Wat meinste, warum ich mir ers’ ga’ keins anschaff’?»
Es war Cox, der, von Boumas Beerdigung zurück, direkt ins Präsidium gefahren war und dort niemanden angetroffen hatte. Er war nicht gerade strahlender Laune. Bei seinen Beobachtungen und den wenigen Gesprächen, die er hatte führen können, war absolut nichts herumgekommen, dafür hatte er tonnenweise militärischen Bombast über sich ergehen lassen müssen, etwas, was er zutiefst verabscheute. Der einzige Lichtblick war Mieke Bouma gewesen, «eine sehr nette Frau», die aber auf gar keinen Fall Anzeige gegen die Bauern erstatten, sondern den ganzen Ärger möglichst schnell vergessen wollte.
Dann berichtete Toppe von seinen Neuigkeiten, und als er das Gespräch beendete, hatten sie die Notbrücke schon passiert. «Peter will weiter nach der Waffe suchen.»
«Braver Kerl.» Ackermann bremste vor dem Deich. «Sollen wer ers’ ma’ ’n Blick auf Dellmanns Einsatzzentrale werfen, bloß für Spaß?»
Auf Dellmanns Hof herrschte reger Betrieb. Ein blauer THW-Laster stand vor der Scheune, die Milchkannen, die die Bauern brachten, wurden verladen, ein Mädchen schleppte einen Käfig voller Küken an. Neben dem Lastwagen stand Frau Dellmann mit einem Klemmbrett und füllte Listen aus.
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