Die Schatten der Vergangenheit
antwortete Delia.
Zufällig sah ich gerade zu Erin und mir fiel auf, wie fasziniert sie mit einem Mal von ihren Fingernägeln war. Ihre Fingerknöchel wurden ganz weiß. Sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, und ihre unsichere Miene verzog sich sofort zu einem Lächeln.
»Was denn?«, fragte ich beiläufig.
Erin, die offensichtlich darauf wartete, dass Delia antwortete, schwieg. Hätte ich mich wegen des geklauten Buchs nicht so schuldig gefühlt, dann wäre mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, wie merkwürdig sie sich benahm.
»Wer sind wir denn? Alcais’ Kindermädchen? Woher sollen wir das wissen?« Delia schnauzte schon beinahe.
Überempfindlich. Ich beschloss, darauf erst mal nicht einzugehen. Wir fingen an, Karten zu spielen, dabei hasste ich Kartenspiele. Was Leute daran fanden, war mir ein Rätsel. Ungefähr eine Stunde später musste Delia auf die Toilette verschwinden.
Erin und ich schwiegen betreten. Das hatte es bei uns noch nie gegeben. Ich fragte mich, ob sie mich vielleicht aus Alcais’ Zimmer hatte kommen sehen und etwas misstrauisch war. Ich hätte ihr ja gern alles gebeichtet, aber was würde dann passieren? Lieber hielt ich den Mund.
»Wieso hast du Melinda geheilt?«
Erins leise Frage klang laut in der Garage. Erschrocken ließ ich mir die Frage einen Augenblick lang durch den Kopf
Dann zuckte ich die Achseln. »Ich konnte ihr helfen, und da blieb mir eigentlich gar nichts anderes übrig.«
»Aber du hast dabei dein Leben riskiert!«
»Was hätte ich sonst tun sollen? Wir sind verwandt!«
Erin sog Luft ein, und es sah aus, als würde sie an ihrem Wangeninneren kauen. So schüchtern sie war, die anderen Heilerinnen hielten trotzdem viel von ihr. Man überhörte sie leicht, aber wenn man geduldig wartete, hatte sie viel zu sagen.
Nach langem Schweigen stieß sie so kräftig die Luft aus, dass ihr der Pony hochflog. »Melinda ist nicht mit dir verwandt, Remy«, flüsterte sie.
Ich erstarrte. »Wie meinst du das?«
Erin hielt den Blick auf die Tür zur Küche gerichtet. »Franc hat uns eingeschärft, so zu tun, als gehöre Melinda zur Familie, falls du dich nach ihr erkundigst. Dabei sind wir ihr noch nie begegnet. Er hätte dich nicht anlügen dürfen. Das war nicht fair.«
Mein Großvater hatte mich belogen. Und dabei hatte es sich nicht nur um eine harmlose Flunkerei, sondern um eine faustdicke Lüge gehandelt, mit der er mich dazu gebracht hatte, mein Leben für eine Fremde zu riskieren. Ich verstand die Welt nicht mehr.
»Aber warum? Aus welchem Grund sollte er das tun?«, fragte ich entsetzt. »Hat er von der Frau dafür Geld verlangt?«
Wie viel war Franc mein Leben wert gewesen?
»Nicht, dass ich wüsste, aber so direkt wollte er es mir auch nicht sagen.« Sie schüttelte deprimiert den Kopf. »Es war einTest. Er wollte dich dazu bringen, deine speziellen Fähigkeiten einzusetzen. Um zu sehen, wie mächtig du bist. Du hattest Geheimnisse, und er wollte, dass sie ans Tageslicht kommen. Ich habe mitbekommen, wie meine Mom sagte, du würdest das nicht durchziehen. Hast du aber.«
Und davor hatte sie ziemliche Ehrfurcht. Das hörte man ihr an. Welche Fähigkeiten versteckte ich nach Francs Meinung denn? Wusste er, was ich war?
Aus dem Haus waren Stimmen zu hören. Delia kam jede Minute zurück, und Erin hatte ein Dutzend Fragen aufgeworfen, die mir jetzt im Kopf herumschwirrten. Heute Abend würde ich von hier verschwinden und die Antworten nie erfahren.
»Erin, was soll das Ganze?«
»Er weiß mehr über dich, als du denkst. Über dich und deinen Freund.«
»Gabriel? Was weiß er denn über Gabriel?«
Wieder blickte Erin besorgt zur Tür. »Wenn sie herausfinden, was ich dir alles erzähle, hab ich ein Problem!«
»Erin?« Ich streckte über den Tisch eine Hand nach ihr aus. »Bitte! Wenn Gabriel in Gefahr ist, dann sag es mir, bitte!«
Ich dachte, sie würde nicht antworten. Dann, gerade als die Tür zur Küche langsam aufging, flüsterte sie: »Gabriel schwebt nicht in Gefahr. Zumindest noch nicht. Es geht um deinen anderen Freund. Den, der dir gleich am Anfang nach Kalifornien gefolgt ist.«
Asher. Sie meinte Asher!
Ich sprang auf, und Erin packte mich an der Hand und versuchte, mich wieder herunterzuziehen. Angesichts ihrer flehenden Miene sank ich wieder auf meinen Stuhl. Delia kam herein, und ich bemühte mich krampfhaft, mir den Schock nicht anmerken zu lassen.
Hinter Delia betrat Alcais die Garage und übersah mich geflissentlich. Steckte er in der
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