Die Schatten der Vergangenheit
Er konnte nicht wissen, dass es passieren würde«, sagte ich. »Du verstehst da was falsch.«
Asher beachtete mich gar nicht. Er ging mit großen Schritten auf Gabriel zu, bis sie sich fast berührten. »Vielleichtglaubt sie es nicht, ich aber schon. Wie lang hast du gewartet, nachdem ihr mich an diesem Ort zurückgelassen habt, um zu verrotten? Wie lange, bevor du dich an sie rangemacht hast?«
»Du weißt wirklich nicht, wovon du redest!« An Gabriels Hals pulsierte eine Ader. »Sei lieber still, bevor du etwas sagst, was du später bereust.«
»Die Familie geht über alles, hast du gesagt. Das, was die mir angetan haben, juckt dich das überhaupt, Bruder?«
Genau das hatte ich befürchtet. Die beiden sahen so aus, als würden sie sich jeden Moment an die Gurgel gehen.
Ich trat zwischen sie und legte eine Hand auf Ashers Brust. »So war es nicht!«
Er starrte auf meine Hand und sah dann über meine Schulter hinweg zu Gabriel. »Das werde ich dir nie verzeihen!«
Das schien sein letztes Wort zu sein. Asher trat zurück und zwang mich damit, meine Hand fallen zu lassen. Indem ich Gabriel verteidigt hatte, hatte ich Asher verloren. Wie konnte ich ihm beibringen, was geschehen war, wenn ich es selbst nicht einmal verstand? Ich hatte ihn so verzweifelt vermisst, ich hatte gewünscht, ich wäre an seiner Stelle gestorben. Warum spürte er das nicht?
Gabriel legte mir eine Hand auf die Schulter, entweder zum Trost, oder weil er mich davon abhalten wollte, nach Asher zu greifen. Dass er mich berührte, war ein Fehler. Ashers Blick fiel auf seine Hand, und seine Trauer verwandelte sich in Wut.
»Wir sind fertig miteinander, Gabriel.«
Ich wollte protestieren, aber Gabriel, dessen Augen sich verengt hatten, hob mich hoch und stellte mich auf die Seite.
»Du bist sauer auf mich«, spie Gabriel voller Verachtung aus. »Du glaubst, ich wollte hier sein? Dass ich gezwungen sein wollte, sie zu beschützen? Klingt das überhaupt nach mir?«
Das saß, und ich protestierte. »Hey! Niemand hat dich gebeten …«
Gabriel fiel mir einfach ins Wort. »Dafür bist du verantwortlich, Asher! Ich habe dich gebeten, einen Bogen um sie zu machen. Hast du aber nicht. Ich habe dir gesagt, sie würde unsere Familie zerstören, aber du wolltest nicht hören. Hast du auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was du Lottie damit angetan hast?«
Gabriel gab Asher einen Stoß. Er wirkte selbst entsetzt darüber. Auch seinen Bruder schien die Gewalt zu überraschen.
Gabriel fuhr fort, und seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. »Nein, du hast sie immer wieder mitgebracht. Und dann bist du ihr nach San Francisco hinterhergelaufen. Du wurdest überwältigt, weil du nicht aufgepasst hast, und dann hast du auch noch zugelassen, dass sie Remy kriegen. Zum Teufel noch mal, du hast die ja praktisch dazu eingeladen. Du verdienst sie nicht!«
Er packte Asher mit beiden Händen am T - Shirt.
Asher schüttelte ihn ab und richtete sich auf. »Und du glaubst, du verdienst sie, Gabriel? Wäre es nach dir gegangen, hätte Dean sie doch schon vor Monaten umbringen können!«
Gabriel ballte die Hände zu Fäusten. »Verpiss dich!«
Asher ging in Abwehrhaltung.
»Hört doch auf! Bitte, jetzt hört doch auf!«, bettelte ich.
Sie ignorierten mich. Sie schlugen mit solcher Wucht aufeinander ein, dass es von den Felsen widerhallte. Asher gab Gabriel einen Faustschlag, dass dessen Kopf nach hinten flog, doch revanchierte der sich umgehend mit einem Schlag in Ashers Magengrube. Ihre übernatürliche Kraft machte alles noch viel brutaler. Nach einem weiteren Schlag spritzte Blut aus Gabriels Nase, und nach noch einem platzte Ashers Lippe auf. Sie trommelten mit den Fäusten aufeinander ein, alswollten sie sich gegenseitig umbringen, und ich konnte nichts dagegen tun.
Gelähmt durch die Gewalt, zog ich mich in mich selbst zurück. Das hier hatte nichts mit dem Training und auch nichts mit meinem Geplänkel mit Gabriel zu tun. Auch Selbstverteidigung war das nicht. Jedes Geräusch entstammte direkt dem Soundtrack meiner Kindheit, und fast konnte ich das Eisen auf der Zunge schmecken. Ich hielt mir die Ohren zu, kniff die Augen zusammen und schrie immerzu: Hört auf, hört auf, hört auf!, nur, dass meine Kehle wie zugeschnürt war, und ich kein Wort herausbekam, da ich im Begriff war, mich zu verlieren.
Memme. Du bist so eine Memme, Remy! Lässt du dir so leicht den Schneid abkaufen und lässt zu, dass sie sich gegenseitig umbringen?
Dieser
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