Die Schatten der Vergangenheit
hältst du das bloß aus?«
Sein Blick wanderte über mich hinweg, und ich spürte, wie ich langsam rot anlief, an den Zehen zuerst, dann immer höher, und das, obwohl ich doch eigentlich nie rot wurde.
»Weil’s das allemal wert ist«, sagte er mit tiefer, samtiger Stimme.
Mein Mund wurde trocken, und ich schluckte, ziemlich überzeugt davon, ich könnte Fieber haben.
»Du, Remy?«
»Hm?«
»Wann küsst du mich denn endlich? Ich habe dich wirklich vermisst!«
Sollte ich bezweifelt haben, dass er noch dasselbe für mich empfand, seitdem er wusste, welche neue Herausforderung uns bevorstand, so waren diese Zweifel durch das Verlangen in seiner Stimme wie weggeblasen. Ich machte zwei Schritte auf ihn zu und warf mich in seine Arme. Er fing mich locker auf, drückte mich an sich und hob mich ein Stück hoch, sodass sich unsere Nasen berührten. Wir waren uns so nahe, dass ich das Grün in seinen Augen sehen konnte.
Ich drückte meine Lippen auf Ashers weichen Mund und vergaß alles über Beschützer und Heilerinnen.
Eine gefühlte Ewigkeit später legten wir eine Atempause ein, sodass ich ihm erzählen konnte, was in den letzten beiden Tagen los gewesen war. Asher hatte eine Stelle am Boden von Piniennadeln und Blättern freigelegt. Ich schob mich zwischen seine Beine und kuschelte mich an seine Brust, während er sich an einen Baum lehnte.
»Es tut mir leid, dass du ihm das von deiner Mutter erzählen musstest«, meinte Asher, nachdem er gehört hatte, dass mein Großvater geweint hatte.
Ich zuckte die Achseln. »Die letzten Tage sind echt seltsam gewesen, Asher. Er hat hier eine Heilergemeinde gegründet. Es sind richtig viele.«
Seine Arme um mich spannten sich an. »Das ist nicht möglich. Das wäre uns bekannt. Wenn das stimmen würde, wüssten die Beschützer davon.«
Ich drehte mich um, damit ich ihn ansehen konnte, und setzte mich auf meine Fersen. »Ich sage dir, es ist möglich. Ich habe ein paar von ihnen kennengelernt. Heute habe ich sogar zugeschaut, wie ein Mädchen in meinem Alter ein Kind wiederbelebt hat, das beinahe ertrunken wäre.«
Ich schilderte, was ich beobachtet hatte, und Asher hörte nachdenklich zu.
»Du sagtest ja, ich würde mich von ihnen unterscheiden, aber mir war nicht klar, wie sehr.« Ich schüttelte den Kopf. »Delia heilte den kleinen Jungen und zog dann los, als ob nichts gewesen wäre. Das könnte ich nie!«
Wie neidisch ich klang! Ich ließ noch mal den Augenblick Revue passieren, als ihre Hände auf dem Brustkorb des Jungen ruhten. Meine Mutter hatte einen Beschützer mit einem Schwamm verglichen, der Energie aufsog, während Heilerinnen Energie leiteten, das heißt, sie kontrollierten und einsetzten, um andere zu heilen. Kurz: Beschützer nahmen Energie auf, während Heilerinnen sie weitergaben.
Und ich? Ich war eine vermurkste Mischung aus beidem – ich gab Energie weiter, um zu heilen, nahm dabei aber den Krankheitszustand des Geheilten auf. Und nun konnte ich anscheinend auch, wie die Beschützer, den Heilerinnen die Energie entziehen. Ich würde mich in ihrer Nähe ständig in Acht nehmen müssen.
Ich dachte darüber nach, was am Tag davor beim Mittagessen mit meinem Großvater passiert war und wie ich die Schnittwunde an seinem Finger geheilt hatte.
»Schon? Das ging aber schnell!« Asher hatte meine Gedanken gelesen.
Wir hatten gewusst, dass ich früher oder später meine Fähigkeiten einsetzen musste, und wenn auch nur um zu beweisen, dass ich sie besaß. Nun vermutete ich mehr denn je, dass mein Großvater mir ohne eine Demonstration meines Könnens nicht so schnell alles über die Heilergemeinde enthüllt hätte. Wie er gesagt hatte, stand dafür zu viel auf dem Spiel.
»Tja, Schwein gehabt«, sagte ich in feierlichem Ton. »Zumindest war es nur eine kleine Verletzung. Die konnte ich problemlos verbergen.«
Ich war imstande gewesen, mich zu beweisen, ohne die schlimmen Begleiterscheinungen meiner Fähigkeiten offenbaren zu müssen. Wenn ich mir überlegte, was ich mir dabei schon alles geholt, aber niemals selbst verschuldet hatte: Prellungen,Schürfwunden, Krankheiten aller Art, gebrochene Knochen und nicht zuletzt einen Drogenrausch.
Asher lächelte mich traurig an. »Dass du dich verletzt hast, würde ich ja nicht unbedingt als glücklichen Umstand bezeichnen.«
Er griff nach der Hand, die gestern Abend geblutet hatte, und fuhr mit den Lippen über meine Fingerknöchel. Ich erschauerte, als er meine Hand auf seine Schulter legte. Er fuhr
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