Die Schatten der Vergangenheit
wäre, dann hätte er es vielleicht auch getan.
Sobald mir dieser Gedanke kam, wurde mir übel. Asher würde mir nie wehtun. Davon war ich felsenfest überzeugt. Der Gedanke, dass es möglich gewesen wäre, grenzte ihm gegenüberan Verrat. Er war auch anderen Heilerinnen begegnet, und er hatte ihnen nie etwas getan. Getötet hatte er nur aus Versehen, als er versuchte, seine Schwester vor einer Heilerin zu beschützen, die sie bedroht hatte. Eine Heilerin, die seinen ältesten Bruder Sam bereits ins Grab gebracht hatte.
Es hatte Zeiten gegeben, da waren die Heilerinnen die Bösen gewesen. Selbst meine Mutter hatte das zugegeben. Vor achtzig Jahren hatte ihr niederträchtiges Verhalten den Beschützern gegenüber zu dem Krieg geführt, in dem die Heilerinnen beinahe ausgelöscht worden waren. Selbst wenn sich ihre Anzahl vergrößerte, hatten sie wirklich eine Chance?
Schließlich beendete ich unser betretenes Schweigen. »Was meinst du, wie weit seid ihr denn schon in euren Anstrengungen, einen Haufen kleiner Heilermutanten herzustellen?«
Ich bemühte mich um einen lockeren Ton, um die Stimmung wieder zu entkrampfen. Keine Ahnung, ob mein Großvater darauf hereinfiel. Jedenfalls wählte er die Worte für seine Antwort mit Bedacht.
»Ein paar unserer Wissenschaftler arbeiten schon lange daran. Sie könnten jeden Tag so weit sein. Unterdessen tun wir alles Notwendige, damit unsere Leute in Sicherheit sind. Jede Heilerin ist wertvoll.«
Er legte tröstend seine Riesenpranke auf meine Schulter. So allmählich glaubte ich, er würde meine Beschützerseite akzeptieren, wenn ich sie ihm offenbaren würde. Vielleicht würde mein Wert als Heilerin ja gewichtiger sein als die Seite von mir, die er hasste.
Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich spürte Hoffnung in mir aufkeimen.
Wenn ich mich davonstehlen konnte, stürmten Asher und ich an manchen Abenden durch den Wald und hinunter zum Fort Point unterhalb der Golden Gate Bridge. Er hörte mir aufmerksam zu, wenn ich all die Geschichten erzählte, die ich tagsüber so erlebte. Da er mir nicht nach Pacifica folgen konnte, ohne dass es Verdacht erregte, blieb er oft in der Stadt. Ich lachte, als er zugab, dass es ihm inzwischen großen Spaß machte, am Fort Point zu surfen. Auch im Sommer kletterte die Wassertemperatur nicht über fünfzehn Grad Celsius, und die meisten Surfer trugen gegen die Kälte Neoprenanzüge, einschließlich Surfschuhen. Bislang hatte ich noch keine Chance gehabt, ihm zuzuschauen, aber mir gefiel die Vorstellung, wie er ganz elegant und im Gleichgewicht übers Wasser glitt und dabei den Felsen entlang des Ufers auswich.
Am Tag nach meiner Unterhaltung mit Franc erwähnte ich Asher gegenüber, dass die Heiler nach einer Möglichkeit suchten, ihre Sippe zu vergrößern, aber das schien ihn nicht weiter zu kümmern. Dagegen leuchteten seine Augen, als ich ihm berichtete, mein Großvater sei der Meinung, sie stünden kurz davor, das Heilerinnen-Gen zu isolieren, und ich ahnte, warum. Wenn sie den Schlüssel für unsere Heilkräfte gefunden hätten, dann könnten sie vielleicht auch erforschen, ob und wie die Beschützer wieder sterblich werden.
»Sie haben über mich was läuten hören, Asher«, gestand ich. »Alcais meinte, sie hätten Gerüchte über eine Heilerin gehört, die der Unsterblichkeit der Beschützer ein Ende setzen könnte.«
Er runzelte die Stirn. »Remy, pass bloß auf! Wenn die irgendetwas ahnen … Wenn du auch nur vermutest, sie hätten einen Hinweis darauf, was du bist, dann musst du dich schleunigst aus dem Staub machen, versprich mir das.« Er strich mir das Haar hinters Ohr. »Ich weiß, du magst deinenGroßvater, aber wir dürfen niemandem vertrauen, vergiss das nicht!«
Das sah ich anders. Mit jedem Tag wuchs meine Überzeugung, dass ich meinem Großvater die Wahrheit über mich anvertrauen konnte. Franc wünschte sich genauso sehnlich eine Familie, wie ich es immer getan hatte. Das merkte ich an der Art, wie er mich mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Zuneigung beobachtete. Wenn er die volle Wahrheit über mich wüsste, dann könnten wir möglicherweise viel eher an ein Heilmittel für Asher gelangen. Zumindest aber könnte Franc Asher und mir vielleicht dabei helfen, wie wir zusammen sein konnten, ohne einander wehzutun.
Diese Gedanken behielt ich aber für mich. Asher sah so verstört aus, dass ich nicht noch Öl ins Feuer gießen wollte. Schließlich versprach ich ihm, mein Geheimnis noch eine Weile für
Weitere Kostenlose Bücher