Die Schatten der Vergangenheit
Angst anmerkte, nickte ich einfach. Meine Hände zitterten ein wenig, und ich schloss sie um meine Knie.
Wir fuhren landeinwärts, bogen dann nach ein paar Meilen in eine mir unbekannte Straße ein und parkten zwischen zwei Straßenlampen.
»Rühr dich nicht vom Fleck!« Nach dieser knappen Anweisung sprang mein Großvater aus dem Truck. Mit langen Schritten marschierte er einen Block weiter zurück, wo die anderen Männer schon auf ihn warteten. Ich fragte mich, wo die Heilerin abgeblieben war?
Aus der Entfernung bekam ich nicht mit, was sie besprachen, aber einige der Männer zogen etwas unter ihren Jacken hervor. Schusswaffen, begriff ich, als Licht auf das Metall fiel. Sie hatten Revolver. Töten konnten sie einen unsterblichen Beschützer zwar nicht, soviel ich wusste, doch konnten sie ihn in seinen Fähigkeiten beeinträchtigen. Rasch teilten sich die Männer auf und näherten sich dem Haus. Damit verschwanden sie aus meinem Blickfeld.
Was, wenn meinem Großvater etwas zustößt?
Auch wenn ich mich an diesem Tag über ihn geärgert hatte, mochte ich ihn. Nein, inzwischen hatte ich ihn richtig gern. Bis heute Abend war er mir gegenüber immer nur freundlich und herzlich gewesen. Mir lief ein Schauer über den Rücken, ich wollte etwas unternehmen, irgendetwas, das ihnen half.
Die Dunkelheit wirkte bedrohlich, und meine Fantasie begann Monster zu erschaffen, wo es keine gab. Ich wünschte, ich hätte an meine Handtasche mit meinem Handy gedacht, aber die hatte ich in der Eile vergessen. Asher hätte schon gewusst, was zu tun wäre, wenn ich ihn hätte erreichen können. Zuvor hätte er mir allerdings eine saftige Standpauke gehalten, weil ich jemanden in aller Öffentlichkeit geheilt hatte.
Obwohl es vermutlich nur zehn Minuten waren, kam es mir wie eine Stunde vor, bis mein Großvater wieder auftauchte. Er hob einen Arm und bedeutete mir, zu ihm zu kommen. Ich sprang aus dem Truck und spurtete los.
Als ich in dem trüben Licht seine düstere Miene sah, rutschte mir das Herz in die Hose.
»Wir waren zu spät«, bestätigte er meine Vermutungen. »Komm mit. Ich finde, das solltest du dir anschauen.«
Er nahm mich sanft am Ellbogen und führte mich zum Haus. Als wir durch die Haustür traten, beschleunigte sich mein Puls, und ich atmete unwillkürlich schneller. Nur noch einer der Männer meines Großvaters war im Wohnzimmer zurückgeblieben. Falls er eine Schusswaffe hatte, hatte er sie weggesteckt. Seine Mundwinkel hingen herab, und seine Augen glänzten, als würde er weinen, während er, ohne den Blick abzuwenden, ins Zimmer nebenan starrte.
Mein Großvater blieb stehen. »Remy, die Beschützer sind Killer. Deine Mutter hat dich, glaube ich, nicht darauf vorbereitet, wie gefährlich sie sind. Vielleicht ist das hier nicht richtig, aber ich weiß einfach nicht, wie ich das sonst in deinen Kopf kriege. Du musst es wissen.«
Was wissen?
Ich wehrte mich nicht dagegen, als er mich um die Couch lotste und dann vor sich her in die Küche schob. Franc wirktewie eine Backsteinwand, als ich ruckartig zurückweichen wollte.
Mir stockte der Atem, als ich sie da liegen sah. Nun war mir klar, worauf der Mann gestarrt hatte. Auf dem schwarz-weiß gekachelten Fliesenboden lag die Frau ausgestreckt in einer Blutlache, die stetig größer wurde.
Sie war gefoltert worden. Kleine rote Schnitte zogen sich über ihre Arme und Beine, wo man sie geritzt hatte, vermutlich, um sie dazu zu zwingen, ihre Fähigkeiten einzusetzen. Ihr brünettes Haar war blutverklebt. Der Beschützer, der sie umgebracht hatte, hatte nicht vorgehabt, sie noch eine Weile am Leben zu lassen. Er hatte sie brutal geschwächt und ihr die Energie geraubt. Und wofür? Um nach Jahrzehnten ohne Empfindungen wieder riechen, schmecken und spüren zu können. Was für eine perverse Ironie: Ein Beschützer hatte Unmenschliches begangen, um sich wieder menschlich zu fühlen!
Yvette hatte es ihrem Mörder nicht leicht gemacht. Sie hatte sich gewehrt, das sah man an den unzähligen Blutergüssen in ihrem Gesicht und an ihrem Körper. So etwas kannte ich aus eigener Erfahrung und konnte mir denken, welch qualvolle Schmerzen sie erduldet haben musste. Ihre weit aufgerissenen Augen schienen mich vorwurfsvoll anzusehen. Als wüsste sie, dass Beschützerblut in mir floss, wüsste, dass ich einen Beschützer liebte.
Mir drehte sich der Magen um, und ich erreichte kaum den Vorgarten, da übergab ich mich auch schon auf dem sauber gemähten Rasen.
Als ich wieder
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