Die Schatten der Vergangenheit
aufstand und mir mit dem Handrücken den Mund abwischte, wartete mein Großvater schon an der Eingangstür. Dass ich weinte, wusste ich nicht, bis er mit einem Finger über meine nasse Wange fuhr. Franc breitete die Armeaus, und ich stürzte mich voller Verzweiflung hinein. Es schien ihm nichts auszumachen, dass ich ihm mit meinen Tränen das Hemd nass machte.
Ich hatte Yvette nicht gekannt, aber ich weinte um sie.
Wenn es das war, was Beschützer anderen antaten, dann schämte ich mich, auch nur ein halber zu sein.
Wir ließen die Frau so zurück, wie wir sie vorgefunden hatten.
Während unserer Rückfahrt in die Stadt erklärte mein Großvater mir, dass einer der Männer Polizist sei und der Ehemann der Heilerin, die uns für den Fall begleitet hatte, dass sie Yvette noch hätte retten können. Er würde sich um Yvettes Leichnam kümmern.
Francs Leute taten, was sie tun mussten, damit der Vorfall so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregte. Ich vermutete, genau deshalb würden sie die Leiche auch nicht einfach in dem Haus liegen lassen, weil das Unruhe und Misstrauen erregen würde. Vor allem, weil Fragen über den Täter und das Motiv auftauchen könnten. Auf die Erklärung meines Großvaters reagierte ich nicht. Ich hatte Angst, es würde mir wieder schlecht werden, wenn ich herausfand, wie genau sie sich Yvettes Leichnams entledigen würden.
Daheim bei meinem Großvater gingen wir gemeinsam in die Küche und machten uns einen Tee. Eigentlich trank ich ja keinen Tee, aber irgendwie schien es in diesem Moment das passende Getränk zu sein, und ich glaube, das Aufsetzen des Wassers und das Eintauchen der Teebeutel bot meinem Großvater Trost.
Er stellte einen Becher vor mich auf den Tisch, und ichwärmte mir die eiskalten Hände daran. Plötzlich spürte ich, wie erschöpft ich war. Erst Chrissy zu heilen und dann mich selbst, hatte mich ausgelaugt. Und der letzte Funken Energie, der mir geblieben war, war beim Anblick der ermordeten Yvette zunichte gemacht worden.
Mein Großvater setzte sich mir gegenüber hin, und er sah älter aus als bei unserer ersten Begegnung. Sein weißes Haar stand wirr vom Kopf ab, und die Verantwortung, die er zu tragen hatte und die Traurigkeit, die ihn übermannt hatte, machten seine Bewegungen schleppend.
Er seufzte tief auf und schob seinen Becher weg. »Ich hätte dir das nicht zumuten sollen, tut mir leid. Ich denke, es war ein Fehler. Kannst du mir verzeihen?«
»Warum hast du mich mitgenommen?«
Die Frage hatte mich die ganze Rückfahrt über beschäftigt. Ich erinnerte mich, wie überrascht Erin und Alcais darüber gewesen waren. Ich glaube nicht, dass sie je bei einer Rettung, wenn man den Einsatz heute Abend so nennen konnte, dabei gewesen waren.
Mein Großvater verschränkte die Arme und legte die Ellbogen auf den Tisch. »Wegen Chrissy und dem, was passiert ist, als du sie geheilt hast.« Er sah mich so durchdringend an, dass ich am liebsten zurückgewichen und im Erdboden versunken wäre. »Geheimnisse sind der Grund, warum Menschen getötet werden. Vor allem, wenn sie zur falschen Zeit in Gegenwart falscher Leute enthüllt werden. Yvette hat heute ihr Leben gelassen, weil sie die falsche Person geheilt hat. Hast du das mitbekommen?«
»Ich habe die anderen so was flüstern hören«, gab ich zu. »Sie soll Krankenschwester gewesen sein.«
Er nickte. »Ja, unseresgleichen hat einen Hang zu Heilberufen.«
Schon klar. Schließlich wollte ich Ärztin werden.
»Das ist nicht immer gut«, fuhr er fort. »Man kann uns dadurch leichter ausfindig machen, vor allem, wenn man weiß, wonach man suchen muss. Gerüchte über eine übernatürliche Heilung machen schnell die Runde. Da heißt es, äußerst vorsichtig sein.«
Betete mir Asher nicht immer Ähnliches vor? Ich fuhr mit dem Finger den Becherrand entlang und sammelte dabei das Kondenswasser auf. Bei dem Gedanken wurde mir mulmig. Ich wusste, er hatte Elizabeth, die Heilerin, die er versehentlich getötet hatte, nicht gefoltert. Doch Yvettes Anblick heute hatte die Dinge für mich sehr real werden lassen. Für Ashers Unsterblichkeit hatte auch jemand sein Leben gelassen. Da brauchte ich mir nichts vorzumachen.
Mein Großvater deutete mein Unbehagen falsch. »Tut mir leid, dass ich vorhin wütend auf dich war. Ich hätte dir sagen müssen, dass ich ganz furchtbare Angst um dich hatte, als ich deine Verletzungen sah. Doch stattdessen habe ich dich angebrüllt.«
Ich zuckte die Achseln. »Schon okay.«
»Nein,
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