Die Schatten des Mars
Knochenmarktransplantation retten könne, lächelte er und erklärte, das sei nicht nötig.
In der darauffolgenden Nacht ging er. Der Junge wollte die Großzügigkeit seiner Gastgeber nicht mit Undank vergelten, so daß er außer ein wenig Proviant nichts mitnahm, was ihm nicht gehörte.
Er verzichtete sogar darauf, die beiden Wachmänner zu töten, die vor einem hell beleuchteten Verwaltungsgebäude in der Innenstadt patrouillierten. Die beiden sahen der davoneilenden schmächtigen Gestalt kopfschüttelnd nach und ahnten nicht, daß sie ihr Leben einer jungen Ärztin der Quarantänestation verdankten, deren Haut nach Blumen duftete.
Mittlerweile hatte die fremde, kraftlose Sonne die Gipfel des östlichen Gebirgsmassivs erklommen; zarte Dunstschleier waberten über den geröllbedeckten Dünenfeldern.
Abseits der Schnellstraße gab es keinerlei erkennbaren Weg, nicht einmal Reifenspuren, doch der Junge ging unbeirrt weiter in die Richtung, die ihm sein Instinkt vorgab.
Arif war nicht zum ersten Mal hier.
Er war durch die Straßen von Port Marineris gegangen, während die Raketen der Regierungstruppen wie leuchtende Sternschnuppen über die Stadt hinweg in Richtung Süden zogen. Arif war mit den Geräuschen des Krieges aufgewachsen, und selbst das Beben der Erde beim Einschlag der Kilotonnen-Sprengköpfe im Hinterland der Aufständischen registrierte er nur noch beiläufig. Er hatte ruhig weitergeschlafen und von den Dünenfeldern und den unglaublichen Schluchten des Candor-Chasmas geträumt, während die Fedayin draußen Breschen in die Minenfelder sprengten und ihre Panzerwagen im Sperrfeuer verglühten.
Und er hatte Djamila wiedergesehen.
Deshalb war er hier.
Vor seinem Aufbruch hatte er Marat Bassejew erzählt, was er gesehen hatte, doch der alte Mann war skeptisch geblieben und hatte behauptet, daß es auf dem Mars kein Wasser gab. Arif hatte ihm nicht widersprochen, obwohl er es besser wußte. Schließlich hatte er den Fluß und den schwarzen See mit eigenen Augen gesehen, und das nicht nur einmal.
Bassejew war betroffen gewesen, als ihm der Junge offenbart hatte, daß er die Stadt verlassen und sich zum Kosmodrom durchschlagen wollte. Aber er hatte ihm keine Steine in den Weg gelegt. Arif wußte das zu schätzen, denn die Steine, die der Clanführer Abtrünnigen in den Weg zu legen pflegte, wogen schwer.
»Vergiß nie, was sie der großen Wölfin angetan haben«, hatte der alte Mann zum Abschied gesagt. »Vor ihr kannst du nicht davonlaufen – niemand kann das.« Dann hatte er sich abgewandt, damit die Männer seine Tränen nicht sehen konnten, doch die Augen des Jungen waren trocken geblieben. Seit Djamilas Tod hatte er nicht mehr geweint.
In der Nacht vor seiner Flucht hatte Arif seinen letzten Auftrag ausgeführt. Als man vor einem geplünderten Lebensmitteldepot die verstümmelten Leichen der Wachsoldaten fand, war der Junge längst nicht mehr in der Stadt. Die Zeit der Rache war vorbei.
– Allmählich erwärmte sich die Luft über den Geröllfeldern des Vorgebirges, und die Sicht wurde klar. Der Junge konnte das Felsentor jetzt deutlich erkennen und beschleunigte seinen Schritt. Das Tor war ein bizarres Gebilde aus zwei Felswänden, die wie ein umgekehrtes V angeordnet waren und sich gegenseitig zu stützen schienen. Seine Höhe ließ sich aus der Entfernung schwer schätzen, Arif war sich allerdings sicher, daß es mehrere hundert Meter sein mußten.
Der Weg wurde steiler, und trotz der geringen Schwerkraft geriet der Junge allmählich außer Atem. Doch solange er das Felslabyrinth im Osten nicht erreicht hatte, durfte er sich keine Rast gönnen. In den Geröllfeldern gab es kaum Möglichkeiten, sich zu verstecken, und Arif konnte nicht ausschließen, daß man nach ihm suchen würde.
Dennoch war der Aufstieg zum Felsentor trotz der dünnen Luft und der schweißtreibenden Enge des Thermoanzugs ein Spaziergang im Vergleich zu dem, was der Junge auf seiner Flucht nach Norden erlebt hatte.
Tagsüber hatte er sich vor den Armeehubschraubern verstecken müssen, die mit automatischen Waffen Jagd auf vermeintliche Rebellen machten. Die Nächte dagegen gehörten den Banditen, die auf geheimen Pfaden durch die Salzsteppe zogen, Vieh raubten und die Landbevölkerung terrorisierten. Die wenigen noch bewohnten Siedlungen waren zu waffenstarrenden Festungen geworden, bewacht von mißtrauischen Hirten, die auf alles feuerten, was sich bewegte.
Die dürftige Vegetation bot kaum Schutz gegen den
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