Die Schatten eines Sommers
Clique, daran gab es keinen Zweifel. Sie war wortgewandt, witzig und klug. Die meisten Jungs aus unserer Klasse waren vernarrt in sie. Jungs mit Pickeln im Gesicht und ungelenken Bewegungen, die sie genauso lächerlich fand wie ich. Aber ich glaube, sie konnte gar nicht anders als ihre Reize auszuspielen, sobald einer in unserer Nähe auftauchte. Es reichte schon, mit ihr an der Bushaltestelle auf den Schulbus zu warten, und sie machte mich kirre mit der Art, wie sie ihre rotbraunen Haare nach hinten warf und plötzlich lauter und aufgedrehter redete. Sie sah gut aus, aber das war es nicht allein. Es war ihre manipulative Raffinesse, die die Leute in den Bann zog, vor allem Jungs, aber auch Männer.
Selbst unser Deutschlehrer war damals scharf auf sie gewesen, wovon sie eine Zeitlang ganz gut profitierte. Ich weiß noch, wie er einen mittelmäßigen Vortrag, den sie gelangweilt vor der Klasse gehalten hatte, mit einer Eins benotet hatte. Sie hatte ihn eine Sekunde zu lange aus ihren leicht schräg stehenden Katzenaugen angesehen und dann wissend gelächelt. «Vielen Dank, Herr Wolff, vielleicht kann ich mich ja mal revanchieren!», hatte sie gesäuselt, und er war rot geworden, obwohl er eigentlich nicht der Typ war, der leicht die Fassung verlor. In der Pause, auf unserer Bank neben den Hagebuttensträuchern, hatten wir uns geschüttelt vor Lachen über seinen gequälten Gesichtsausdruck. Hanna, Marie, Dorit und ich.
Ich rieb mir mit den Händen übers Gesicht. Mein Gott, wollte ich eine Rede über Hanna halten? Warum schweiften meine Gedanken immer wieder zu ihr ab, anstatt bei Dorit zu bleiben? Seit zwei Stunden saß ich jetzt schon am Schreibtisch und versuchte mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Die Rede für Dorit. Aber es ging nicht. Außer einer allgemeinen Ansprache an die Trauergemeinde war ich noch nicht weit gekommen.
Ich schloss die Datei und schaltete meinen Laptop aus. Ich musste zu Bett, ich war erschöpft von der Hitze und von der halben Flasche Chianti, die ich während meiner vergeblichen Anläufe geleert hatte. Und dennoch wusste ich, dass ich auch diese Nacht wieder keinen Schlaf finden würde. Nachdem ich zwei Tabletten genommen hatte, schlüpfte ich unter das Laken, stopfte mir mein Kissen in den Rücken und nahm die Bibel zur Hand, so wie ich es fast jeden Abend tat. Nicht um Trost darin zu finden – ich bin kein Mensch, den man trösten muss –, sondern Weisheit. Mein Blick fiel auf einen Satz aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer:
Denn der Tod ist der Sünde Sold
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HANNA
Ich begann, den Kuchen zu verschlingen, während ich vom Parkplatz des Supermarkts auf die Landstraße bog und in die nächste schattige Allee eintauchte. Der Pappteller verrutschte auf meinen Knien, und die Sahne landete auf meinem Kleid. Es war mir egal. Aber als ich nach dem Becher in der Ablage zwischen den Vordersitzen griff, schwappte der heiße Kaffee über meine Hand, und ich verriss das Steuer. Ich hatte einen einzigen, sehr klaren Gedanken, während ich auf einen der mächtigen Alleebäume zuschoss: Gäbe es jemanden, der ein Kreuz für mich am Straßenrand errichten und Blumen davor ablegen würde?
In letzter Sekunde gelang es mir, den Wagen wieder auf die Straße zu lenken. Danach schaffte ich es gerade noch, die Allee zu Ende zu fahren und in den nächsten Feldweg einzubiegen. Dort riss ich die Wagentür auf, stolperte ins Freie und ließ mich ins Gras fallen.
Ich lag auf dem Rücken und atmete tief durch, bis sich mein Puls wieder beruhigt hatte. Am leuchtend blauen Himmel zogen ein paar tuffige Wattewölkchen entlang, Bienen summten, ich roch Feldblumen und wusste: Ich muss umkehren, weg hier, weg von dem Grillengezirpe und den Kühen, die auf der Weide gegenüber fettes, grünes Gras rupften und malmten. Dies alles war zu viel für mich.
«Hammerhart», hatte Fabienne früher immer gesagt. «Du bist hammerhart.» Ich hatte es als Kompliment genommen. Es war der Lohn für meine Arbeit.
Ich war zehn Jahre alt gewesen, noch auf der Grundschule, kurz vor dem Übergang aufs Gymnasium. Wir waren frisch ins Dorf gezogen, meine Mutter hatte eine Stelle im Kreiskrankenhaus bekommen. Ich war eine Außenseiterin in der neuen Klasse, in die ich mitten im Schuljahr geworfen wurde. Kinder riechen es, wenn jemand anders ist und verletzlich. Dass ich ein hässliches, dickes Entlein gewesen war, hatte die Sache nicht einfacher gemacht. Eines Tages hatte irgendein Mädchen
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