Die Schatten eines Sommers
mich zutiefst getroffen, zutiefst beschämt. Ich erinnere mich bis heute, was sie sagte: «Niemand mag dich. Du versuchst, dich bei uns einzuschmeicheln. Aber das schaffst du nicht.»
Tage später presste meine Mutter aus mir heraus, warum ich so bedrückt war. Sie hielt mir einen Vortrag, den ich genauso wenig vergaß wie die Worte des Mädchens auf dem Schulhof. Meine Mutter war die straighteste Frau auf Gottes Erdboden gewesen. Nur so hatte sie sich damals als Ärztin ihre Position erkämpfen können.
«Niemals!», schärfte sie mir ein. «Versuche niemals, dich bei irgendjemandem einzuschmeicheln. Das bringt nichts. Niemals. Wenn du Erfolg haben willst: Zeig den anderen, dass du sie nicht brauchst.»
Ich hatte ihren Rat ernst genommen. Wie alles, was meine Mutter sagte. Sie hatte nie besonders viel mit mir gesprochen. Sie war zielstrebig und tough gewesen. Wenn sie sprach, dann saugte ich jedes ihrer Worte auf und bewahrte es sorgfältig in mir auf.
Mit dem Wechsel aufs Gymnasium war alles anders geworden. Anfangs hatte sich niemand an mich herangetraut. Ein, zwei Schuljahre lang war ich sehr einsam gewesen. Aber dann, als ich mich langsam vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan wandelte, kamen sie. Ich wusste lange nicht, dass es nicht nur an meiner Unnahbarkeit, sondern auch an meiner Attraktivität lag. Ich empfand mich weiterhin als dickes, unscheinbares Mädchen. Bis sich irgendwann ein Junge an mich herantraute und mir offenbarte, dass er und seine Freunde mich für das schönste Mädchen der Schule hielten. Danach änderte sich vieles. Ich war gefragt und beliebt. Aber ich gestattete mir trotzdem nicht, jemanden wirklich zu brauchen.
Ich schloss die Augen, um dem strahlend blauen Himmel zu entkommen, der so tat, als ob alles in Ordnung wäre. Es war unglaublich dumm gewesen, hierherzukommen. Ich würde nach Hause fahren und ein paar Telefonate führen, um herauszufinden, wie und warum Dorit sich umgebracht hatte. Ich würde klären, dass mich keine Schuld an ihrem Tod traf. Klären, dass mein Buch kein Fehler gewesen war.
Zu Dorits Beerdigung zu gehen, womöglich Fabienne und Marie zu treffen … das war nichts als falsch, falsch, falsch.
Die Frau im Rollstuhl … lächerlich, dass ich so panisch auf sie reagiert hatte. Ich würde Dorits Mutter in Beerenbök begegnen, das hatte ich doch gewusst. Mit Sicherheit hatte sie mein Buch nicht gelesen. Sie war nicht mehr in der Lage zu lesen … oder?
Sie musste besinnungslos gewesen sein vor Verzweiflung, damals, als sie in den Wagen gestiegen war, um ihrem Geliebten nachzufahren. Ich hatte das alles geändert, natürlich, in dem Roman. Hatte aus dem Auto ein Motorrad gemacht, aus dem Platzregen eine schwüle Sommernacht, aus der Kurve einen Alleebaum – und ich hatte Dorits Mutter sterben lassen, noch auf der Straße.
Aber es war nicht ihre Geschichte, die im Mittelpunkt meines Romans stand, sondern die eines seelenwunden Mädchens und ihrer Freundinnen. Dorit hatte mir den Stoff geliefert und sich selbst als beklagenswerte Hauptfigur. Keine von uns dreien war damals auf die Idee gekommen, etwas anzuzweifeln. Wir hatten der Drama-Queen ihren Kummer geglaubt, er war wahrhaftig gewesen, und wir hatten ihre Geschichte gebraucht – jede von uns aus einem anderem Grund –, vor allem aber aus Dummheit und weil in uns, wie in jedem Menschen, das Böse war. Gemeinsam hatten wir einen Plan ausgeheckt, der vollkommen aus dem Ruder gelaufen war. Nicht mehr und nicht weniger hatte ich niedergeschrieben.
Es war ein Roman mit einer tragischen Protagonistin und drei starken Figuren an ihrer Seite. Um das Innenleben der weiteren Figuren hatte ich mich nicht gekümmert. Meine Story war eine andere. Aber dass ich morgen, auf Dorits Beerdigung, der Frau begegnen würde, deren Geschichte ich weggelassen hatte, rief etwas in mir wach. Etwas, das lange in mir geschlummert hatte: Schuld.
Der Schatten, in dem ich lag, nahm der Hitze nichts von ihrer Wucht. Mein Kleid klebte am Körper fest, und die Kuchensahne und der zuckrige Milchkaffee pappten an meinen Fingern. Ich brauchte Wasser. Irgendwo in der Nähe musste ein See sein, hier waren überall Seen. Auch unser See von damals.
Ich hatte ihn genau beschrieben, bis hin zu der fehlenden Planke des Stegs und dem Felsbrocken auf der kleinen Insel, der aussah wie eine zusammenkauerte Frau. Feenstein hatten wir ihn genannt. Wir hatten Briefe geschrieben, jede einen, jede an sich selbst, an die Frau, die sie einmal sein
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