Die Schattenfrau
sich entspannt an, erholt. In den letzten Tagen war er wie ein Automat gewesen, den man leicht hätte missbrauchen können.
»Du denkst wieder an das Mädchen«, diagnostizierte Angela. »Ja. Aber nicht so wie vorher.« »Wie meinst du das?«
»Du weißt, wie das schwankt. Im einen Augenblick sieht man die Chancen und im nächsten nur die Schwierigkeiten.«
»Klingt wie deine Lebensphilosophie.«
»Arbeitsphilosophie, vielleicht. Leider. Heute früh war ich pessimistisch.«
»Und musstest an das Schlimmste denken.«
»So weit will ich lieber nicht gehen.«
»Es besteht noch Hoffnung«, munterte sie ihn auf, »du hast es vorhin ja selbst mehrmals gesagt.«
»Es besteht insofern Hoffnung, als wir es nicht mit dem klassischen Fall von Verschwinden zu tun haben, wo ein Kind plötzlich weg ist von einem Spielplatz und wir den Verdacht haben, dass irgendein Teufel es entführt hat. Da gibt es selten Hoffnung. Da finden wir das Kind oft nur, wenn der Psychopath gesteht und uns zum Grab führt.«
»Aber diesmal ist es nicht so.«
»Nein. Hier taucht überhaupt keins der gewohnten Muster auf. Also sage ich, es gibt noch Hoffnung. Oder am Ende etwas Schlimmeres, als wir je gesehen haben.«
»Sag nicht so was. Aber vielleicht musst du es mal aussprechen.«
Winter antwortete nicht.
»Sprich doch mal mit jemand anders, als mit deinen Kollegen darüber«, schlug sie vor.
»Ja. Vielleicht hast du Recht.« »Okay. Ich höre.«
»Da ist noch etwas anderes«, begann er und stützte sich auf einen Ellbogen. »Es ist diese menschliche Einsamkeit, die über diesem Fall liegt. Es hat so lange gedauert, ihren Namen und ihre Wohnung zu finden. Und den Verdacht bestätigt zu bekommen, dass es ein verschwundenes Kind gibt. Wäre da nicht diese alte Dame gewesen, würden wir vielleicht noch immer im Dunkeln tappen. Verstehst du? Was für eine ungeheure Einsamkeit. Wir haben ihren Namen, aber wir haben immer noch nicht mehr als winzige Teile des Puzzlebildes.«
»Jetzt müsste sich doch langsam mehr ergeben, wo ihr so groß mit der Fahndung an die Öffentlichkeit gegangen seid. Landesweit.«
»Sicher, stimmt schon. Aber vielleicht auch nicht. Und genau darum geht es mir. Diese unheimliche Einsamkeit, in der Helene und ihre Tochter anscheinend gelebt haben.«
»Ja.«
»Niemand, mit dem sie reden konnte. Verstehst du? Wie du und ich jetzt miteinander reden.«
»Wie du und ich«, wiederholte sie. Aber wie lange noch? dachte sie bei sich. Jetzt kann ich das nicht laut sagen. Das ist unmöglich. Aber er würde es verstehen, wenn er darüber nachdächte. Er sieht verletzlicher aus, als ich es jemals gesehen habe. Jünger, und das liegt nicht nur am Haar. Jetzt ist nicht der Moment für ein Ultimatum. Vielleicht in einer Stunde. Oder in zwei Tagen.
Angela hob den Arm und strich ihm mit der rechten Hand über das Haar. »Wie lange darf das hier noch wachsen?«
»Es wächst ununterbrochen.«
»Ich meine, wann lässt du es abschneiden.«
»Wenn wir das Mädchen finden.«
»Deshalb...? Bist du abergläubisch geworden oder so?«
»Nein. Mir ist einfach danach. Und ich fühle mich wohl so.«
»Aber bitte keinen Pferdeschwanz. Der passt nicht zu dir.«
»Okay.«
»Der einzige Mann, dem ein Pferdeschwanz steht, ist dein Kollege aus London, finde ich.« »Macdonald.«
»Ich habe ihn ja nur ein paar Minuten gesehen, aber er hat mit seinem Pferdeschwanz nicht wie eine Tunte gewirkt.«
»Und ich würde so aussehen?«
»Nein. Aber du hast nicht diese... Härte im Gesicht. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.«
»Vielen Dank.«
»Das war ein Kompliment. Hörst du noch was von ihm?« »Macdonald?«
Sie nickte. Sie hatte die Hand von seinem Haar genommen. »Nur eine Ansichtskarte. Vielleicht rufe ich ihn mal an. Vielleicht kann er mir einen Rat geben.« »Grenzüberschreitende Zusammenarbeit.«
»Das wäre nicht das erste Mal.« Winter schwang ein Bein über die Bettkante. Er verdrehte den Körper, um sie anzusehen. »Angela... «
»Ja?«
»Wir haben aus Lillhagen erfahren, dass Helene dort vielleicht kurze Zeit wegen einer Depression behandelt worden ist«, erzählte Winter.
»Oh.«
»Einer aus unserer Abteilung hat die Krankenblätter durchgesehen, und sie könnte es gewesen sein. Unter einem anderen Namen. Dann war sie wieder draußen und taucht nicht mehr auf in den Klinikunterlagen.«
»Das ist jetzt so üblich«, sagte Angela.
»Dass die Leute nicht noch einmal zurückkommen?«
»Du weißt doch, wie das jetzt
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