Die Schattenleserin - Nachtschwarze Träume: Roman (German Edition)
hat – er hat seit Beginn dieses Prozesses noch gar nicht den Mund aufgemacht –, schätze ich, dass seine Stimme mehr Gewicht hat als die der anderen. Zumindest hoffe ich es.
Lena sagt etwas in ihrer Sprache, und auf einmal schweigen alle Fae. Sekunden verstreichen. Als die Stille andauert, wird mir immer unbehaglicher.
»Dann ist es entschieden«, sagt Lena in meiner Sprache und sieht mich mit ihren silbernen Augen an.
Mein Herz pocht wie wild. Ich ziehe meine Schultern hoch und spanne die Muskeln in meinen Beinen an, bereit zu laufen, aber niemand bewegt sich. Das muss ein gutes Zeichen sein. Selbst wenn sich die Mehrheit dafür ausgesprochen hat, mich zu töten, scheint keiner der Henker sein zu wollen.
Lenas Gesicht verfinstert sich noch weiter. Sie zieht einen Dolch aus der Lederscheide an ihrer Hüfte, kommt hoch auf die Veranda und reicht Aren die Waffe. »Es muss getan werden.«
Sie hat nicht den Mumm, es selbst zu machen. In meinen Augen macht sie das zum Feigling, aber ich bin auch erleichtert. Vielleicht haben diese Leute ja doch eine Art von moralischem Kompass. Ich könnte mir vorstellen, dass es sehr viel schwerer ist, jemanden kaltblütig zu ermorden, als ihn im Kampf zu töten. Außerdem ist es falsch. Der Hof würde so etwas nicht tun.
Aren sieht nicht so aus, als ob er den Dolch annehmen will. Er lümmelt noch immer auf der Bank, hat die Arme vor der Brust verschränkt und sieht mich an. Ich erwidere seinen Blick, während ich zusammen mit den anderen Fae auf seine Entscheidung warte.
Er nimmt die bestiefelten Füße vom Geländer und beugt sich vor. Mir rutscht das Herz in die Hose, als ich sehe, wie er die Waffe in Lenas Hand mustert.
Nein. Das kann er nicht ernst meinen. Er wird mich nicht töten. Er braucht mich. Er will mir nur Angst machen, damit ich kooperiere. Oder? Oder?
Als er den Dolch nimmt, bohre ich die Fingernägel in meine Handflächen, damit meine Hände nicht zittern.
»Bist du dir sicher, dass du nicht für uns schattenlesen willst?«, fragt mich Aren. Der sonst für ihn so typische Spott ist aus seiner Stimme verschwunden. Es ist ihm völlig ernst. Er wird mich töten, wenn ich nicht das tue, was er will.
»Tausch mich ein«, sprudelt es aus mir heraus.
Er legt den Kopf auf die Seite und sieht mir nicht mehr in die Augen, sondern lässt den Blick langsam zu meinen Füßen und wieder nach oben wandern. Der Ansatz eines Grinsens ist in seinem Mundwinkel zu erkennen.
»Was glaubst du, wie viel du wert bist, Nalkin-Shom? «
»Sie will doch nur Zeit gewinnen«, wirft Lena ein, bevor ich antworten kann. »Wir können nicht zulassen, dass der Hof sie zurückbekommt.«
Verdammt richtig. Ich will Zeit schinden. Das würde sie auch tun, wenn sie von Leuten umzingelt wäre, die ihr die Kehle aufschlitzen wollen.
»Vielleicht bekommen wir für sie Roop und Kexin zurück«, meint Trev, der zu meiner Linken steht.
»Vielleicht auch Mrinn«, wirft ein anderer ein. Weitere Fae rufen noch mehr Namen. Es besteht kein Zweifel daran, dass ich wertvoll bin – nur wenige Menschen haben die Gabe des Sehens, und noch weniger besitzen die Fähigkeit des Schattenlesens –, daher könnte es vielleicht funktionieren. Ich atme aus, weil ich anscheinend die Luft angehalten hatte, und stelle mir vor, dass meine Überlebenschance gerade um 30 … 40 … verdammt noch mal, vielleicht sogar 50 Prozent gestiegen ist.
Lena sieht die Fae an, die sich auf dem Rasen versammelt haben. »Wir wissen nicht mal, ob einer von ihnen noch am Leben ist.«
»Der Hof weiß nicht, dass sie noch lebt«, entgegnet jemand. Das ist ein gutes Argument, und ich überlege schon, ob ich ihnen vorschlagen soll, dass sie ein Bild von mir machen und dem König schicken, vielleicht eins, auf dem ich die Frankfurter Times , oder wie immer die lokale Zeitung auch heißen mag, in der Hand halte.
Ich schnaube. Als ob hier irgendjemand eine Kamera hätte. Und selbst wenn, würden sie nicht wagen, sie anzufassen.
Aren beugt sich vor, stützt die Unterarme auf die Knie und spielt mit dem Dolch herum. Die Welt wartet auf seine Entscheidung. Wieder einmal. Es muss schön sein, einen so großen Einfluss zu haben.
Sein Gesichtsausdruck ist unergründlich, als er aufsteht. Mir ist kalt, und ich fühle mich irgendwie losgelöst, als wäre ich jemand anders, der dabei zusieht, wie über das Ende meines Lebens entschieden wird. Ich stehe kurz davor, einen verzweifelten, zum Scheitern verurteilten Fluchtversuch zu machen, als Aren
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