Die Schattenleserin - Nachtschwarze Träume: Roman (German Edition)
über meinen Kopf fliegen und ich mich wieder und wieder überschlage, wobei ich schneller anstatt langsamer werde.
Der Wald schlägt an meine Haut und fliegt an mir vorbei. Plötzlich steht da direkt auf meinem Weg ein Baum. Ich strecke meine Arme aus, um mich vor dem Aufprall zu schützen. Böser Fehler. Mein rechter Arm absorbiert mein gesamtes Gewicht. Ich höre ein Knacken und spüre einen stechenden Schmerz im Unterarm, dann liege ich mit dem Gesicht nach unten auf dem Waldboden.
Während die Welt um mich herum immer weiter verschwimmt, drehe ich mich auf die linke Seite. Mein rechter Arm wackelt, als ob mir zwischen dem Handgelenk und dem Ellbogen ein neues Gelenk gewachsen ist. Ich versuche, den weißen Knochen zu ignorieren, der aus meinem Fleisch herausragt. Als ich mich aufrappeln will, wird mir übel und schwindlig. Ich sehe alles verschwommen. Dann, als Lena gerade in mein Blickfeld tritt, wird mir schwarz vor Augen.
6
E s gibt ein neues Falschblut.«
Ich wende den Blick von Kyols Schattenspur ab. Es ist Monate her, dass wir uns zuletzt gesehen haben, doch die Zeit hat meine Reaktion auf ihn nicht schmälern können. Mein Herz macht einen kleinen Sprung. Er sieht genauso aus wie beim letzten Mal, als wir beschlossen haben, dass es für uns leichter wäre, wenn wir in unseren eigenen Welten bleiben. Wir hatten recht. Die Art, wie er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht, bewirkt, dass sich in meiner Brust alles zusammenzieht.
Ich lasse mich auf die Couch fallen. Meine Eltern sind nicht da. Das ist das erste Mal, dass sie mich alleine zu Hause gelassen haben, seitdem ich drei Tage am Stück verschwunden war. Ich konnte ihnen nicht sagen, wo ich gewesen war – die Wahrheit hätten sie mir ja ohnehin nicht geglaubt –, und sie haben meinen Hausarrest erst vor einigen Wochen wieder aufgehoben, nachdem meine Noten besser geworden waren.
»Ein neues Falschblut?«, wiederhole ich. Das erste hätte mich beinahe umgebracht, aber die Angst, die ich eigentlich spüren sollte, verschwindet unter einem sehr viel mächtigeren Gefühl.
»Du bist in Sicherheit«, versichert mir Kyol und setzt sich ebenfalls auf die Couch. Obwohl er bestimmt dreißig Zentimeter von mir entfernt sitzt, steigt die Temperatur aufgrund seiner Körperwärme.
»Warum bist du dann hier?«, will ich wissen.
Unsere Blicke begegnen sich. Er muss nichts mehr sagen. Er ist nicht aus dem Grund hier, den ich mir wünsche. Zwischen uns hat sich nichts geändert. Der König hat die Gesetze, die uns voneinander trennen, nicht aufgehoben, und Kyol hat nicht die Absicht, seinen Eid zu brechen.
»Ich habe Atroth gebeten, jemand anders zu schicken«, sagt er.
»Weil du mich nicht sehen wolltest.«
»Nein.« Er spannt das Gesicht an und senkt den Blick zu Boden. »Weil ich dich sehen wollte.«
Es macht mich fast krank, dass sein Eingeständnis von Schuldgefühlen begleitet wird. Ich ärgere mich darüber, dass ich ihn trösten will, ihm sagen, dass es in Ordnung ist, dass es mir gut geht und dass ich es verstehe. Ich will es nicht verstehen, aber er ist der Schwertmeister des Königs. Er hat geschworen, die Nachfahren der Tar Sidhe mit seinem Leben zu beschützen, und selbst wenn seine Magie keinen Schaden nehmen würde, wenn er sich in meiner Nähe und der der Technologie meiner Welt aufhält, ist er nun mal ein Mann, der seine Versprechen hält.
Verdammt, die Zeit, die wir uns nicht gesehen haben, sollte doch beweisen, dass dieses Gefühl nichts als eine Schwärmerei ist.
»Wie heißt er?«, frage ich, weil mein Verstand in die »Was wäre, wenn«-Schleife gehen würde, wenn ich mich nicht auf den wahren Grund, aus dem Kyol hier ist, konzentriere.
»Betor, Sohn des Jallon.«
Das Déjà-vu trifft mich so heftig, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Nein. Das kann kein Déjà-vu sein. Ich kann mir denken, was als Nächstes passieren wird.
»Ist er schlimmer als Thrain?«, höre ich mich fragen.
»Noch nicht. Wir hoffen, dass wir ihn gefangen nehmen können, bevor er einen weiteren Angriff starten kann.« Kyol sieht mir nicht in die Augen, und seine Stimme bleibt unbewegt.
»Du willst meine Hilfe nicht.«
»Nein.«
»Warum bist du dann hergekommen?«
»Atroth dachte, ich könnte dich vielleicht dazu überreden, einige Fae aufzuspüren. Ich soll dir sagen, dass du nicht in die größeren Kämpfe verwickelt wirst. Wir setzen dich … verdeckt? … ein.« Er sieht auf. Als ich nicke, fährt er fort. »Wenn wir den Standort eines
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