Die Schattenmatrix - 20
holte. Aber wo sollte er sie unterbringen? Haus Halyn war immer noch in einem derart schlechten Zustand, dass es nicht viel mehr Menschen beherbergen konnte als die jetzigen Bewohner. Das Gebäude war von Anfang an nur für die alte Dame und ein paar Diener gebaut worden. Und er sollte doch wirklich in der Lage sein, allein mit ein paar Kindern fertig zu werden!
Er versuchte sich aufzuheitern, indem er aufzählte, was er bereits alles geschafft hatte. Der Kamin im Speisesaal war endlich freigeräumt, so dass der Raum am Abend ein wenig
gemütlicher war. Er hatte Glas bestellt und in einen Teil der Fenster eingesetzt. Die Qualität des Essens verbesserte sich leicht, auch wenn es nach wie vor ungenießbar zubereitet wurde. Er hatte eine Frau im Dorf dazu gebracht, einige Kleidungsstücke für die Kinder zu nähen, damit sie nicht mehr wie Gassenkinder aussahen. Die Pferde waren gut versorgt. Nicht viel für mehrere Wochen Aufenthalt, aber immerhin etwas.
Tiefe Verzweiflung nagte an ihm. Er hielt es plötzlich keine Minute länger im Haus aus! Mikhail schaute durch die neuen Fenster und sah, dass es ein freundlicher Tag war. Vielleicht würde ein wenig Bewegung seinem Kopf gut tun. Er schnallte sein Schwert um und ging durch die Küche nach draußen, ohne auf den brummenden Koch zu achten, der ein paar Fische abschuppte, die am Morgen aus dem Dorf eingetroffen waren.
Nur wenige kleine Wolken standen am Himmel, und vom Meer her wehte eine angenehme Brise. Er roch nach Salzwasser, und der Geruch vertrieb seine Erschöpfung ein wenig. Mikhail bemerkte allerdings noch einen anderen Geruch. Der erste Schnee lag in der Luft, und er würde bald kommen. Er blickte in Richtung Norden und entdeckte dunkle Wolken am Horizont. Ja, der Winter war im Anmarsch. Mikhail unterdrückte einen Schauder. Die Vorstellung, in diesem erbärmlichen Haus überwintern zu müssen, war beinahe unerträglich.
Mikhail ging auf die Hecke zu, die den Stall vom Haus abgrenzte, als er den rauen Schrei einer Krähe hörte. Er drehte sich um und sah die weißen Flügelspitzen aufblitzen, die er nun als die einer Seekrähe erkannte. Bestimmt handelte es sich um denselben Vogel, der ihn schon am Tag seiner Ankunft begrüßt hatte. Eine ganze Reihe von Krähen lebten um Haus Halyn herum, aber nur dieser eine Seevogel. Die anderen waren eher gewöhnlich, alle schwarz und ein wenig kleiner als dieses Tier. Mikhail hatte sich längst an das leise Krächzen
gewöhnt, mit dem die Schar den Tag ankündigte, an das Trippeln ihrer Klauen auf dem Dach über seinem Schlafzimmer, und er genoss ihre geschwätzigen Unterhaltungen am frühen Morgen. Die Vögel wirkten als Einzige in Haus Halyn normal und angenehm auf ihn.
Mit der Seekrähe verhielt es sich allerdings anders, sie ignorierte alle außer Mikhail und beobachtete ihn jedes Mal genau, wenn er das Haus verließ. Die Intensität dieser gefiederten Aufmerksamkeit beunruhigte ihn ein wenig, und er konnte nicht entscheiden, ob der Vogel nun Freund oder Feind war. Er entdeckte ihn in der Hecke, fast unsichtbar zwischen den dunkelgrünen Zweigen, offensichtlich der Lieblingsplatz der Krähe. Er winkte der Höflichkeit halber und stieß das Tor in der Hecke auf.
Mikhail betrat den mittlerweile sauberen Stallhof, wo Daryll und Mathias eine kleine Stechpuppe aufgebaut hatten, eine Attrappe in Menschengestalt, die an einer Reihe von Seilen und Rollen hing und somit beweglich war. Sie hatten die Füße mit Holzklötzen und zerbrochenen Hufeisen beschwert, und das Ganze war recht geschickt gemacht. Mikhail sah eine Weile zu, wie die Puppe im Wind schaukelte, und bewunderte die Tüchtigkeit seiner Männer. Die beiden Gardisten übten jeden Tag ein wenig entweder an der Attrappe oder trainierten miteinander, und Mikhail dachte, dass er sich schon viel früher hätte beteiligen sollen. Es würde ihm gut tun. Im Augenblick war der Stallhof jedoch menschenleer. Selbst der alte Duncan schien nicht da zu sein. Mikhail hörte die Pferde in ihren Boxen in dem sauberen und reparierten Stall schnauben und stampfen. Er zuckte die Achseln und zog seine Waffe, dann näherte er sich der Attrappe, wobei er sich schon ein klein wenig albern vorkam.
Mikhail wärmte sich mit ein paar Finten und Paraden auf und genoss die Anstrengung seiner Muskeln. Er wechselte das
Schwert von einer Hand in die andere, wie es ihm sein Lehrmeister beigebracht hatte, als er etwa so alt wie Emun war. Er sollte unbedingt mit Vincent und Emun in den Hof gehen und
Weitere Kostenlose Bücher