Die Schattenplage

Entscheidungen getroffen, wäre aus einem berühmten Helden vielleicht ein elender Schurke geworden. Meine Vermutung ist, dass Coulter und Tanu nach ihrer Verwandlung der Dunkelheit auf eine Weise widerstanden haben, wie die meisten magischen Geschöpfe sie sich nicht einmal vorstellen können.«
    »Ich begreife immer noch nicht, wie jemand so Nettes wie Newel so schnell so böse werden kann«, wandte Seth ein.
    Opa hob einen Finger. »Ich betrachte die meisten magischen Geschöpfe nicht als gut oder böse. Was sie sind, bestimmt im Wesentlichen die Art, wie sie handeln. Um gut zu sein, muss man den Unterschied zwischen Recht und Unrecht erkennen und sich bemühen, das Rechte zu wählen. Um wahrhaft böse zu sein, muss man bewusst das Gegenteil tun. Gut oder böse zu sein, ist eine Entscheidung. Die Geschöpfe Fabelheims jedoch sind entweder hell oder dunkel. Einige sind ihrem Wesen nach Erbauer, einige Ernährer, einige sind spielerisch. Einige sind ihrem Wesen nach Zerstörer, einige sind Betrüger, einige streben nach Macht. Einige lieben das Licht, einige die Dunkelheit. Aber veränderst du ihre Natur, wird ihr Charakter ohne großen Widerstand folgen. So, wie eine Fee ein Kobold werden kann oder ein Kobold seine Feenschaft zurückzugewinnen vermag.« Opa sah Oma an. »Werde ich zu philosophisch?«
    »Ein wenig«, bestätigte sie.
    »Fragen, die mit ›warum‹ beginnen, sind am schwersten zu beantworten«, sagte Dale. »Am Ende rät man mehr, als dass man weiß.«
    »Ich denke, ich verstehe, was du meinst«, meldete sich Kendra zu Wort. »Ein Dämon wie Bahumat hasst und zerstört von Natur aus, weil er keine andere Möglichkeit sieht. Er hinterfragt seine Taten nicht und widersetzt sich auch nicht seinem Gewissen, er hat nämlich keins. Jemand wie Muriel, der sich bewusst dafür entschieden hat, der Dunkelheit zu dienen, ist böser.«
    »Also hat Newel sich anders verhalten, weil er nicht mehr Newel ist«, schlussfolgerte Seth. »Die Seuche hat ihn vollkommen umgekrempelt. Er ist jetzt ein anderer.«
    »Das ist der grundlegende Gedanke dahinter«, bestätigte Opa.
    Warren seufzte. »Wenn ein hungernder Bär meine Familie fressen will, auch wenn er damit keine bösartigen Absichten verfolgt und einfach nur ein Bär ist, macht seine Natur ihn zu einer Bedrohung, und ich würde ihn erschießen.« Das Gespräch schien ihn zu nerven.
    »Der Bär müsste aufgehalten werden «, pflichtete Oma ihm bei. »Stan zieht diese Unterscheidung nur deshalb, damit man dem Bären nicht auf die gleiche Weise Vorwürfe macht, wie man sie einer zu Selbstverantwortung fähigen Person machen würde.«
    »Ich verstehe den Unterschied«, meinte Warren. »Aber ich habe eine andere Auffassung von magischen Geschöpfen. Mir fallen viele Geschöpfe ein, die sich dafür entschieden haben, gute oder böse Taten zu vollbringen, ungeachtet ihrer Natur. Ich mache dunkle Geschöpfe für das, was sie sind und was sie tun, eher verantwortlich, als Stan es tut.«
    »Was dein gutes Recht ist«, erklärte Opa. »Das Thema ist im Wesentlichen akademischer Natur, obwohl einige Leute, die deine Ansicht teilen, sie als Vorwand benutzen würden, um alle dunklen Geschöpfe auszulöschen, eine Vorstellung, die ich verwerflich finde. Ich gebe dir recht, dass Geschöpfe des Lichts tödlich sein können – denk an die Najaden, die zum Spaß Unschuldige ertränken. Die Feenkönigin selbst streckt jene nieder, die sich ohne ausdrückliche Einladung ihrem Schrein nähern. Und Geschöpfe der Dunkelheit können hilfreich sein – sieh dir Graulas an, der uns wichtige Informationen gegeben hat, oder die Goblins, die zuverlässig in unserem Kerker Wache halten.«
    »Diese faszinierende Debatte einmal beiseite gelassen«, meinte Oma ungeduldig, »geht es im Augenblick darum, die Seuche um jeden Preis aufzuhalten. Wir stehen am Rand der Vernichtung.«
    Alle nickten.
    Opa strich sein Hemd glatt und blickte ein wenig verdrossen drein. »Lena wusste nicht viel über Kurisock, sie konnte nur bestätigen, dass er mit der Bestie zu tun hatte, die jetzt das alte Herrenhaus beherrscht. Aber sie konnte uns vieles über das zweite Artefakt erzählen.« Er berichtete, wo sich der Safe befand, zu welcher Zeit er erscheinen würde und wie die Kombination lautete.
    »Irgendeine Vermutung, welches Artefakt es ist?«, fragte Warren.
    »Das hat sie nicht gesagt«, antwortete Kendra.
    »Das Artefakt könnte Macht über Raum und Zeit besitzen«, sagte Oma. »Es könnte die Sehkraft