Die Schattenritter: Kuss der Dunkelheit
Dame mit blondem Haar und grünen Augen. Ihre helle Haut wurde noch blasser, als sie begriff, wer ihr unangekündigter Gast war. »Constantin!«, flüsterte sie.
Er hob den Kopf, und Marikas Herz setzte aus, während sie auf seine Reaktion wartete. Sein dunkles Haar war grau geworden, die Falten in seinem Gesicht tiefer. Ansonsten aber war er äußerlich derselbe elegante, gutaussehende Mann wie früher.
Allerdings strahlte er eine Zufriedenheit aus, die seine Tochter nie an ihm gekannt hatte.
Seine grauen Augen weiteten sich. Er legte seine Serviette ab und stand langsam von seinem Stuhl auf. Fürchtete er, sie könnte sich auf ihn stürzen und ihm an die Kehle gehen, falls er sich zu schnell bewegte?
»Marika? Mein Gott, Marika!«
Mit Überraschung hatte sie gerechnet, sogar mit Wut. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass er mitausgebreiteten Armen auf sie zukam. Sie hatte nicht erwartet, von ihm umarmt zu werden, als würde er sie lieben. Ana offensichtlich auch nicht, denn die Haushälterin hielt hörbar die Luft an, als sie schließlich ins Zimmer stürmte.
Mit geschlossenen Augen kostete Marika den Moment aus, ganz kurz nur, bevor sie sich den Armen ihres Vaters entwand. »Guten Tag, Papa. Entschuldige, dass ich dich beim Frühstück störe.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Hast du schon etwas gegessen, oder möchtest du vielleicht ein paar Eier? Oder Kaffee?«
Warum war er so herzlich zu ihr? Und wieso war sie dagegen nicht besser gewappnet? »Ich möchte mich nicht aufdrängen …«
»Tust du nicht.« Er wandte sich an die perplexe Haushälterin. »Ana, bring eine Tasse für Marika!«
Der alten Frau widerstrebte es sichtlich, aber ihr Pflichtgefühl siegte, und so schlurfte sie aus dem Zimmer, nachdem sie Marika einen unverhohlen drohenden Blick zugeworfen hatte.
Marikas Vater nahm sie beim Arm. Er mochte älter geworden sein, schien aber nach wie vor kräftig. »Komm, ich mache dich mit deinem Bruder bekannt.«
Zwar war sie dem Duft des Säuglings hierher gefolgt, bemerkte jedoch erst jetzt den Korbwagen, der unter dem Porträt ihres Ururgroßvaters stand.
Darin lag, in blütenweißes Leinen gebettet und gewickelt, als wäre er ein kleiner Messias, ihr Bruder. Er war recht groß, proper und schien kerngesund. Sein Köpfchen war von kohlrabenschwarzem Flaum bedeckt, und mitseinen tiefschwarzen Augen blickte er sich um, als wollte er alles auf einmal in sich aufnehmen.
Marika verliebte sich auf den ersten Blick in den Kleinen. Dass er nur ihr Halbbruder war – oder weniger noch, wenn sie Saints Anteil mit berücksichtigte –, tat nichts zur Sache. Sie hätte nicht mehr für ihn empfinden können, wären ihre Eltern dieselben.
»Was für ein hübscher Junge!«, sagte sie und musste lächeln, als sie wieder zu ihrem Vater aufsah.
Constantins Brauen zogen sich für einen winzigen Moment zu einem Stirnrunzeln zusammen, das aber sogleich einem stolzen Strahlen wich. »Ja, das ist er. Möchtest du ihn einmal halten?«
»Constantin …«
War das alles, was diese Frau sagen konnte? Marika würdigte sie keines Blickes, weil sie die Abneigung, die Angst oder den Ekel nicht sehen wollte. »Ich möchte ihn nicht ängstigen.«
»Wirst du nicht.« Ihr Vater blickte streng zu seiner Frau. »Unser Sohn wird seine Schwester erkennen.«
Das kam alles so unerwartet. Wo waren die Mistforken und die Fackeln? Sie war auf einen frostigen Empfang gefasst gewesen, nicht auf das hier.
Ein frostiger Empfang würde sie nicht so unsicher machen, sie weniger aus dem Gleichgewicht bringen. Vielleicht machte ihr Vater das ja absichtlich: Er verunsicherte sie, bis sie nicht mehr wusste, was echt war und was nicht.
Nun allerdings nahm er das Baby aus dem Korbwagen und betrachtete es mit einer unverhohlenen Liebe, die Marika die Tränen in die Augen trieb. Sie hatte er nie so angesehen,dessen war sie sich gewiss. Dann reichte er ihr das kleine Bündel.
Ihre Verbitterung wie auch ihr Bedauern schwanden, als sie das Kind in die Arme nahm. Ihr kleiner Bruder wedelte mit den Ärmchen und stieß leise Gurrlaute aus. Dabei sah er Marika direkt in die Augen und lächelte, dass sie seine winzige Zungenspitze und die zahnlosen Kiefer sah. Aus dem Gurren wurde ein begeistertes Quieken, bei dem sein kleiner Körper erbebte und die Beine in der fest gewickelten Decke zuckten.
Marika erwiderte sein Lächeln. Sie konnte gar nicht anders. Die Liebe, die sie von einer Sekunde zur nächsten für dieses Baby,
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