Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
den verräucherten Klamotten zu schälen und sich umzuziehen. Vielleicht würde er auf dem Weg nach Hause noch an einem Chippie anhalten und sich eine Portion Chips mit Essig für zu Hause mitnehmen. Nach dem ganzen Alkohol konnte ein bisschen ranziges Fett sicher nicht schaden.
Er stopfte das Hemd einfach in seinen Spind und streifte sich T-Shirt und Hose über. Als er sich seinen abgewetzten Hoodie überstreifte, musste er grinsen. Für Lexas ehemals bestes Pferdchen im Stall war eine solche Aufmachung eine echte Beleidigung, aber die Zeit um drei Uhr in der Früh, wenn die Nacht eigentlich bereits vorbei, aber die Sonne noch nicht aufgegangen war, war für Simias eine der seltenen Stunden, in denen er keinen Wert auf sein Äußeres oder seine Wirkung gab. In dieser Zeit fühlte er sich fast wie ein Mensch.
Seine Hand streifte Pergament, und er zog eine dünne, auf Holz gerollte Pergamentrolle hervor. Er hatte sie in seinem Spind, wie auch das meiste andere Zeug. Simias verbrachte seine Zeit ohnehin meist im Sin, und ein Großteil seiner Sachen befand sich im Spind. Er hätte die Rolle Cale direkt geben können, aber er wollte sie selbst noch einmal in Augenschein nehmen, ehe er sie dem Inkubus übergab. Wer weiß, was sich darin versteckte, wenn Cale so aufgeregt nach Informationen zum Blutlesen suchte. Mehr Hinweise als auf dieser Rolle würde er schwerlich finden.
Etwas knirschte leise. Simias hob den Kopf und sah sich in der Garderobe um. Man hatte sie im ehemaligen Pastorenzimmer aufgestellt, und der enge Raum war mit lieblos angemalten Metallspindwänden ausgefüllt. Simias lugte hinter seinem Spind hervor, doch da war nichts. Außer ihm waren alle Barkeeper bereits in den verdienten Feierabend verschwunden, und er war allein in der Garderobe. Simias schüttelte den Kopf über sich selbst und griff nach seiner Tasche.
Auf dem Weg durch Edinburgh kamen ihm kaum Menschen entgegen. Er zog die Kapuze seines Hoodies weit ins Gesicht. Er dachte über Cales Besuch nach. Simias hatte ihn noch niemals so aufgebracht erlebt. Irgendetwas musste den Inkubus dermaßen erschreckt haben, dass der alle Zurückhaltung fahren ließ. Aber es konnte doch nicht wahr sein, was er erzählt hatte, oder? Engel kamen nicht mehr auf die Erde, um Dämonen die Herzen herauszureißen. Und selbst wenn – Simias hatte in den vergangenen dreihundert Jahren den einen oder anderen Trick gelernt. Er würde sich bestimmt nicht einfach so überwältigen und fressen lassen, versicherte er sich selbst in Gedanken, doch seine Schritte wurden schneller.
Als er es bemerkte, fluchte der Dämon leise und zwang sich bewusst, langsamer zu gehen. Er war ein Kind aus den Tiefen der Hölle, geboren in Schmerz und Krieg. Die Umgebung sollte sich vor ihm fürchten, nicht umgekehrt!
Aus den Augenwinkeln bemerkte Simias eine Bewegung. Er blieb stehen und sah nach rechts. Dort, hinter einem Müllcontainer, stand jemand und winkte ihm. Simias runzelte die Stirn. Ein Junkie?
Die Person trat hinter dem Container hervor, und jetzt erkannte Simias sie. Cale. Hatte er noch etwas vergessen? Entnervt über die späte Störung kam Simias ihm entgegen. »Was willst du denn n...«
Etwas Scharfes erschien in seinem Blickfeld, und plötzlich war da rasender Schmerz. Blut tropfte aus seinen Augenhöhlen, und alles wurde schwarz. Simias heulte auf und schlug um sich, doch er bekam niemanden zu fassen. Er schrie Cales Namen, erhielt aber keine Antwort. Stattdessen traf ihn etwas hart im Brustkorb und schleuderte ihn in die Luft.
Ein schier endlos wirkender Fall und ein sehr harter Aufprall nahmen ihm die Orientierung und brachten ihm unerträgliche Schmerzen. Simias zwang sich, sich auf seine Ohren zu konzentrieren. Seine zerschnittenen Augen würden heilen, aber dafür musste er sichergehen, dass sein Angreifer ihn am Leben ließ. Und wo, bei allen sieben Ringen der Hölle, war Cale?
Schritte neben ihm. Simias packte zu, und seine Finger wurden zu Klauen. Befriedigt fühlte er, wie sie sich durch Haut, Fleisch und Sehnen bohrten, und sein Angreifer schrie auf. Der Triumph verflog schnell. Sein Arm wurde zurückgerissen, und etwas Hartes, wahrscheinlich ein Stiefel, traf ihn gegen die Schläfe. Schmerz explodierte grell hinter seiner Stirn.
Sein Hoodie wurde einfach auseinandergerissen, und Simias spürte, wie Angst sich seiner bemächtigte, als er erkannte, was der andere wollte. Seine Rune! Zum ersten Mal in seinem langen Leben musste Simias erfahren, was
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