Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
einfach hindurchschritt. Sie war groß, ging zielstrebigen Schrittes, und der lange ledernde Mantel bewegte sich mit jedem Schritt wie der Umhang eines Kriegsherrn auf dem Gang zu seiner Schlacht.
Der Mann sah sich manchmal um, schien aber nicht wirklich an seinem Weg zu zweifeln. Seine Füße trugen ihn unerbittlich aus dem Licht der Lampe, bis er vor einer hohen frei stehenden Mauer stehen blieb. Die langen Haare wurden von einer leichten Windböe erfasst und zur Seite geweht. Er schloss die Augen und schien zu lauschen. Mit einem Mal schlug er die Augen wieder auf und sah auf. Auf der zuvor noch leeren Mauer hockte ein weiterer Mann und sah auf ihn herunter. Er wirkte amüsiert.
»Du bist sehr melodramatisch, Uriel«, sagte er und legte den Kopf schief.
Der Angesprochene schnaubte leise. »Engel wurden aus dem Grund geschaffen«, erwiderte er und winkte den Mann herunter. Der stieß sich ab und landete, obwohl die Mauer mindestens fünf Meter hoch war, absolut lautlos und mit einer katzenhaften Eleganz vor Uriel. »Du riefst mich, Erzengel, und hier bin ich«, sagte er würdevoll und klopfte sich imaginären Staub von der Schulter.
»Und dafür danke ich dir auch.« Der Engel sah sich wieder um und schien sich unbehaglich zu fühlen, als würden ihm weder die Umgebung noch dieses Treffen zusagen. Dennoch zeigten seine Augen ehrliche Freude, als er den anderen Mann betrachtete. »Es ist lange her. Ich bin froh zu sehen, dass du diese Zeit unbeschadet überstanden hast.«
Sein Gesprächspartner neigte den Kopf. »Wenn du das unbeschadet nennen willst«, murmelte er und bleckte die Fangzähne.
Uriel räusperte sich. »Du hast damals ein großes Opfer für uns alle gebracht.«
»Nein. Du bist in Wahrheit derjenige, der ein viel größeres Opfer brachte«, erhielt er leise zur Antwort. »Es ist einfach zu gehen, aber umso schwerer, zu bleiben und zu ertragen. Du hast dafür gesorgt, dass die Dinge nicht aus den Fugen gerieten.«
»Was hat es schon genutzt?« Die Stimme des Engels klang bitter, und er sah hinauf zum Mond. »Ich bin nun doch hier und muss es beenden.«
Der andere Mann schien nichts Tröstendes darauf antworten zu können, daher schwieg er.
Uriel nickte ihm zu. »Ich habe dich gerufen, weil ich noch einmal deine Hilfe brauche.«
»Was immer du willst.«
Uriel entspannte sich ein wenig. »Du musst mein Auge sein. Ich schaffe es alleine nicht, alles zu sehen, und es haben sich Kräfte eingemischt, die ich nicht kontrollieren kann.«
»Ich befürchte, ich weiß, um wen es sich handelt«, seufzte der Mann.
»Umso besser. Hilf mir, sie mir vom Hals zu schaffen.«
»Einverstanden. Und was wirst du tun?«
Der Engel richtete sich auf und wirkte dabei wieder sichtlich angespannt. »Alles, was nötig ist.« Er verneigte sich leicht vor seinem Gesprächspartner. »Auf ein baldiges Wiedersehen, Alvendriel.«
Zum ersten Mal grinste sein Gegenüber, so breit, dass die Fangzähne aufblitzten. »Bleiben wir doch einfach bei Desmond.«
Nach Feierabend wirkte das Sin wieder mehr wie eine Kirche als ein Club. Simias musste bei dem Gedanken grinsen, während er die abgeklebten Kirchenfenster betrachtete, deren Umrisse sich unter den grellen Neonlampen, die für die Putzfrauen angeschaltet worden waren, deutlich von den Kirchenwänden abhoben. Nur das Fenster direkt über der Tür war noch deutlich zu sehen – der fallende Engel, der in das Flammenmeer stürzte.
Simias hockte auf dem Tresen, gönnte sich eine letzte Zigarette und betrachtete versonnen das Kirchenfenster, während um ihn herum die letzten Angestellten die Barhocker hochstellten und den gröbsten Müll zusammenschoben. Gleich würden die Putzfrauen kommen und in wenigen Stunden aus dieser nach verschütteten, klebrigen Cocktails und Bier stinkenden Müllhalde wieder einen der attraktivsten Clubs Edinburghs machen.
Simias spürte, wie die Kälte der Steinwände langsam zurück in die Kirche kroch und die übriggebliebene Hitze der Tänzer verdrängte. Egal, was man auch mit einer Kirche anstellte, tief in ihren Wurzeln, den dicken Steinquadern, die sich in die Erde bohrten, wusste sie immer, was sie einmal gewesen war. Ein Ort Gottes.
Er nahm die Zigarette aus dem Mund und warf sie einfach in ein halb volles Wasserglas, wo sie zischend erlosch. »Bis heute Abend«, grüßte der Türsteher ihn, und Simias hob die Hand zum Zeichen, dass er ihn gehört hatte.
Er wandte sich von den arbeitenden Leuten ab und ging in die Garderobe, um sich aus
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