Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
Sandstein. Das Bild, das die verschiedenfarbigen Glasplatten bildeten, zeigte aber keinen Heiligen. Eine Gestalt stürzte kopfüber in ein riesiges Flammenmeer, die Arme in die Höhe gerissen, als wollte sie den Fall bremsen. Auf ihrem Rücken war ein Paar weißer Flügel ausgebreitet. Über dem Kirchenbild prangte eine Schrift aus verschnörkelten Buchstaben und verkündete jedem Besucher den Namen: Sin.
Cale steckte die Hände noch etwas tiefer in die Taschen seiner Jacke und legte den Kopf in den Nacken, ehe er den Griff der großen hölzernen Doppeltür ergriff und sie aufzog. Laute, stampfende Beats dröhnten ihm sofort in den Ohren und eine Wolke aus Schweiß, Alkoholgeruch, Gelächter und lasziv dahingeseufzten Textzeilen schlug ihm entgegen. Ein bulliger Mann mit Glatze, Sonnenbrille und Fliegerjacke sah auf, als Cale eintrat, musterte ihn überdeutlich und winkte ihn dann in den Club.
Unter dem ehemaligen Kirchenschiff war mehr als genug Platz für die tanzwütigen Besucher, und Cale musste sich regelrecht durch die Masse der zuckenden, sich windenden Tänzer kämpfen, um irgendwie in die Nähe der Bar zu gelangen. Als er endlich am Tresen stand, schob er einfach ein Mädchen mit viel zu kurzem Rock und viel zu engem Oberteil beiseite und suchte die Personen hinter der Bar ab. Heute waren zwei Barkeeper anwesend, aber Cale suchte jemand bestimmten.
In diesem Moment wurde ein weißer Haarschopf sichtbar, der sich durch eine Tür am anderen Ende des Tresens schob. Cale sprang mit einem Satz über die Bar, stieß dabei mit dem Fuß ein Bier um und drängte sich dann an den protestierenden Barkeepern vorbei zu der Tür, die sich gerade schloss. Er stieß sie auf und fand dahinter ein Pärchen vor, das sich wild knutschend in die Ecke eines ansonsten leeren Hinterzimmers drängte. Cale packte die Frau an der Schulter, ohne sie überhaupt anzusehen, und starrte den Mann dahinter an. Sein weißes Haar war zerzaust, seine dunkle Haut leicht gerötet, und bernsteinfarbene Augen musterten Cale eher neugierig als wütend.
»Was soll das, du Irrer?«, kreischte die Frau empört, aber Cale brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Seine Ungeduld machte die Grenze zwischen ihm und Caes gefährlich dünn, und er konnte sich nur zu gut vorstellen, was die Frau sah, als er sie kalt anfunkelte und zur Tür deutete.
Wortlos und kreidebleich drehte sie sich um und verschwand. Cale drehte sich wieder um und drückte den Mann gegen die Wand. Der verzog die vollen Lippen zu einem Schmollmund. »Weißt du, wie lange es dauert, bis ich die Kleine wieder versöhnt habe?«, maulte er.
»Deine Bettgeschichten interessieren mich gerade nicht sonderlich. Ich brauche deine Hilfe, Simias.«
Der kniff nun doch die Augen leicht zusammen und musterte Cale. »Huh, was hat dich denn so aufgebracht? Oder hat dich Lexa geschickt? Falls ja, kannst du ihr sagen ...«
»Lexa ist tot.«
Der Dämon namens Simias verzog das Gesicht. »Verdammt. Gut, wir mochten uns nicht sonderlich, aber den Tod habe ich ihr nun wirklich nicht gewünscht.«
Cale zuckte mit den Schultern. »Eure Differenzen hatten die Agentur lange genug aufgemischt. Es war besser, dass du gegangen bist.«
Simias imitierte Cales Schulterzucken, senkte aber den Blick. »Vielleicht«, sagte er und nach einem kurzen Atemzug: »Wahrscheinlich.« Er schüttelte den Kopf. »Wie kann es überhaupt sein, dass einer von uns stirbt? Die Kirche schickt seit Jahrzehnten keine Exorzisten mehr. Und sonst …«
»Es war kein Engel.« Cale atmete tief durch. »Aber darum geht es jetzt nicht. Ich brauche deine Hilfe«, wiederholte er wesentlich ruhiger.
»Nichts ist umsonst.«
Cale spürte, wie seine Ungeduld wieder die Oberhand gewann. Er drückte in einer einzigen Bewegung Simias so hart gegen die Wand, dass der für eine Sekunde sogar vom Boden gehoben wurde. Nah an dem Gesicht des anderen Dämons knurrte Cale: »Es reicht mir, dass mir jeder hier irgendetwas abknöpfen will! Ein verdammter Engel macht sich hier in Edinburgh zu schaffen und reißt Leuten, mit denen ich gearbeitet hatte und die ich mochte, die Herzen raus, um sie zum Frühstück zu verspeisen. Und es wird nicht lange dauern, bis ich wieder irgendwen mit zerbrochener Rune und Loch in der Brust finde. Ich will das verhindern, und alles, was dir dazu einfällt, ist, was du von mir bekommen kannst?«
Cale ließ Simias los und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Meinetwegen, dann fordere ich jetzt
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