Die Schattenstaffel Kommissar Morry
diesen fröhlichen Stunden noch nicht, daß sich unweit von ihnen unheilvolle Wolken zusammenzogen. Noch erfreuten sich zum Beispiel Victoria Hurlinghamer, die steinreiche Lady aus Pimlico, und ihr Neffe Franky bester Gesundheit. Wie bald schon sollte es anders kommen.
*
Der folgende Sonnabend, ebenfalls ein sonnenüberglühter Tag, neigte sich seinem Ende zu. Träge bewegten sich selbst die Kellner im erstklassigen Luxushotel „Excellency", dem teuersten und feudalsten Haus von Southend on Sea, um den Gästen Unmengen von Eisgetränken zu servieren. Auch als die Sonne bereits längere Schatten warf, war die Terrasse noch beängstigend von Menschen überfüllt. Kein Mensch schien sich groß um den anderen zu kümmern. Und so fühlten sich Lady Hurlinghamer und ihr Neffe unbeobachtet an ihrem Tisch, den sie für sich allein hatten. Sie saßen am äußersten Ende der Terrasse. Ihr Tisch war durch Ziersträucher vom Nebentisch abgegrenzt. Weder der leicht nervöse Franky Hurlinghamer noch die Lady bemerkten den ständigen Mann, der weit vorgebeugt hinter den Ziersträuchern saß und seine Ohren spitzte. Dennoch verstand er es, unter den vielen Hotelgästen hier auf der Terrasse einen gänzlich apathischen Eindruck zu machen. Er wedelte sich hin und wieder mit einer Zeitung Luft zu. Absolut nichts Auffälliges war an diesem stillen Lauscher zu bemerken. Sein Gesicht blieb bei allem vom Nebentisch her Vernommenen maskenhaft starr. Was er von dem Gespräch mitbekam, war nicht nach seinem Sinn.
„Aber Junge, wie konntest du nur so dumm und leichtsinnig sein", hörte er die zittrige, erregte Stimme der Lady auf den jungen Mann an ihrer Seite einreden. „Fünftausend Pfund — das sagst du so hin, als ob dir im Augenblick nur das Kleingeld für eine Straßenbahnfahrt fehlt. Ja, nun guckst du mich erstaunt an. Was du getrieben hast, ist doch eigentlich eine Schande für unseren Namen. Verspielst in einer unverzeihlichen Weise dein ganzes Barvermögen und machst nebenbei noch diese Schulden! Bei Gott, ich muß schon sagen: das hätte ich nicht von dir erwartet.“
„Entschuldige, ich weiß ja selbst, was für Unverantwortliches ich mir da geleistet habe", gab Franky zerknirscht zu.
„Natürlich muß dich mein Verhalten kränken. Aber was sollte ich denn nun anders machen als zu dir zu kommen? Sollte ich mir etwa von Miß Mitchel aus der Patsche helfen lassen?"
„Um Gottes willen! Nur das nicht! Ich kenne zwar diese Miß Mitchel noch nicht. Du hast sie mir ja noch nicht vorgestellt! Aber nach allem, was du mir von ihr erzähltest, scheint sie ja Charakter zu haben. Sicherlich hat sie mehr Verstand als du. Doch davon werde ich mich persönlich bald überzeugen können, denke ich."
Franky atmete erleichtert auf. Er erkundigte sich: „Wann, Tante, hm, darf ich dir Susan — ich meine Miß Mitchel vorstellen?''
Eine kleine Pause entstand. Nicht minder gespannt als Franky Hurlinghamer wartete der geheimnisvolle Lauscher hinter den Ziersträuchern auf die Antwort der Lady. Er strengte sein Gehör noch mehr an, vernahm aber die Worte der Lady nicht deutlich genug. Tante und Neffe flüsterten ein Weilchen miteinander. Endlich vernahm der Lauscher hinter dem Zierstrauch wieder klarer die Stimme der Dame. Sie klang merklich versöhnt.
„. . . also so ist das, mein Junge! Hm. Na gut. Aber das hat noch etwas Zeit. Bleiben wir zunächst noch, bei deiner dummen Geschichte, die aus der Welt geschafft werden muß. Fünftausend, sagtest du, hat der Clubdirektor in Mayfair von dir zu bekommen?"
„Well!" bestätigte Franky, „und — noblesse oblige — ich will sein Trinkgeld nicht vergessen."
„Gut, ich sehe noch einmal über deinen Unverstand hinweg. Du bekommst den Betrag von mir. Montag früh werde ich auf einen Sprung nach Pimlico kommen. Ich habe für mich selbst noch einigen kommerziellen Kram zu erledigen und kann dir dann gleich das Geld geben. Ich werde dich am Montag gegen elf in meinem Hause erwarten."
Der Lauscher machte ein grimmig-finsteres Gesicht. Dieser soeben gehörte Termin paßte nicht in seine Berechnungen. Alle seine bisherigen Vorbereitungen waren durch die veränderte Lage über den Haufen geworfen. Oder vielleicht doch nicht? Der „Napoleon von London" gab nicht auf. Schon entwickelte sich hinter seiner Stirn ein neuer Plan. Ein noch schmählicheres Denken nahm ihn von nun an gefangen. Für ihn stand es fest: die Lady durfte ihre Wohnung in Pimlico nicht wieder erreichen, weder am
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