Die Schattensurfer (German Edition)
gehört. Kalawesi. Sie wiederholte den Namen im Kopf, betonte mal die erste und dann wieder die letzte Silbe. Es fiel ihr nicht ein, woher sie ihn kennen sollte.
Der Mann hatte Sansibars Hand ergriffen und schüttelte sie. Sansibar wurde hin und her gerissen, bis es ihr schließlich gelang, sich loszumachen.
„Ich bin Sansibar“, sagte sie und hielt sich die Hand. Ihr Gelenk fühlte sich ganz ausgeleiert an. „Sind Sie Arzt?“, fragte Sansibar unsicher.
Kalawesi schüttelte sich vor Lachen. Die Ratte mit der roten Irokesenfrisur klammerte sich fest und kleckerte dabei Senf auf Kalawesis Revers. Er brummte: „Nein, ich bin ein Patient wie du. Ich leide unter Disinformie, sagen sie. Ich passe den Damen und Herren von RUHL nicht mehr in den Kram. Ich soll entsorgt werden wie Sperrmüll. Ich habe mir zu viele Freiheiten herausgenommen, sagen sie. Ich sollte mich an die Regeln halten. Dabei kommt es doch nur auf das Ergebnis an. Über 100 Millionen Stunden Unterhaltung und Zerstreuung gehen auf mein Konto. Das hat die Gesellschaft mir zu verdanken.“ Dann lachte er wieder, bis sein dicker Bauch wackelte. Die Ratte krallte sich am Anzug fest und funkelte Kalawesi genervt an.
Das Lachen wollte so gar nicht zu seinen Augen passen. Wütend sahen sie aus.
„Aber Sie tragen einen lilafarbenen Kristall“, wunderte sich Sansibar. „Wie können Sie unter Disinformie leiden?“
Wortlos stand Kalawesi auf und ging hinüber zu einem der backsteingroßen Computer. Er schaltete Musik ein: Volksmusik, eine schwungvolle Polka in voller Lautstärke.
„Bitte nicht. Das klingt schrecklich.“
Ohne die Musik auch nur ein bisschen leiser zu drehen, kam Kalawesi zurück. Er sah sich vorsichtig um. Dann flüsterte er: „Wir brauchen die Musik, damit sie unser Gespräch nicht belauschen können. Und jetzt hör gut zu! Ich LEIDE bestimmt nicht unter Disinformie. Ich genieße sie! Ich liebe es, Geheimnisse für mich zu behalten.“
Sansibar erschrak. Das war bestimmt eine Falle.
Kalawesi ließ sich nicht bremsen. Aufgeregt flüsterte er: „Damit du es wirklich verstehst, muss ich ganz vorne beginnen. Meine Eltern hatten kaum Geld. Mein Vater arbeitete als Aushilfshausmeister und meine Mutter verdiente mit Schneidern ein wenig dazu. Aber es reichte nie, um in den Urlaub zu fahren oder Computer zu kaufen. Ich beschloss, später einmal viel Geld zu verdienen, sehr viel Geld. Ich nahm mir vor Millionär zu werden.“
„Hat leider nicht geklappt“, sagte Sansibar und deutete auf Kalawesis altmodischen Samtanzug. Sansibar wusste seit der ersten Klasse, dass sie später einmal Ärztin werden wollte. Natürlich wollte sie nicht im Krankenhaus für Disinformie arbeiten oder in so einer bescheuerten Schönheitsklinik, wo die meisten jungen Ärzte nach ihrem Studium eine Anstellung fanden. Sansibar wollte eine richtige Ärztin werden, die Menschen bei Krankheiten half. Aber das konnte sie sich jetzt komplett abschminken.
Kalawesi lachte und diesmal kam es ganz tief aus dem Bauch. Seine Augen funkelten. „Oh doch, ich habe viel Geld verdient, sehr viel Geld. Vor vielen Jahren wurde ein altes Fahrgeschäft zum Verkauf angeboten – ein Autoscooter. Niemand wollte es haben und da der alte Besitzer keinen hohen Preis forderte, nahm ich meine ganzen Ersparnisse, lieh mir noch etwas Geld von der Bank und kaufte das Fahrgeschäft, das in keinem guten Zustand war. Ich hatte da so eine Idee und programmierte eine Computersteuerung für meinen Autoscooter: riesige Zuckerwatteberge schossen aus dem Boden. Man musste ihnen ausweichen. Wer es nicht schaffte, das Lenkrad herumzureißen, hing in der klebrigen Zuckerwatte und musste sich erst einmal frei beißen. Die Leute liebten meinen Zuckerwatte-Autoscooter. Richtig verrückt waren sie danach und an warmen Sommerabenden standen sie bald Schlange vor meinem kleinen Fahrgeschäft. Ich nannte es Lunapark. Es sollte groß klingen, denn ich hatte noch viele Ideen für neue Fahrgeschäfte.“
„Wie DER Lunapark?“, fragte Sansibar.
Kalawesi lachte und streichelte über die Irokesenfrisur seiner Ratte: „Nein, nicht WIE der Lunapark. Es war DER Lunapark.“
Sansibar brauchte einen Moment bis sie verstand. Kalawesi hatte den Lunapark gegründet? Daher kannte sie seinen Namen. Sie erinnerte sich, wie dem Gründer des Lunaparks der große Kristallorden verliehen wurde. Es wurde sogar in den Nachrichten gebracht. Das war am Morgen, nachdem ihre Mutter verschwunden war. Deswegen erinnerte sie sich
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