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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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seinen Händen gleiten. Carnegie und Skeet rangen miteinander und rutschten über den Boden. Unaufhaltsam näherten sie sich der offenen Tür.
    »Neiiin!«, brüllte Jonathan.
    Es war zu spät. Die beiden überschlugen sich nochmals, fielen zur Tür hinaus und landeten krachend auf der Straße. Marianne kreischte triumphierend und klopfte gegen das Dach. Die Kutsche kippte wieder auf alle vier Räder zurück und verlangsamte die Fahrt auf normale Geschwindigkeit. Die Kopfgeldjägerin zupfte sorgsam ihr Witwenkostüm zurecht, nahm ihren Dolch und schloss die Tür. Die Klinge funkelte Furcht einflößend in ihrer Hand. Marianne lächelte.
    »Ich glaube, das sollte reichen. Nun, mein Kleiner, wollen wir jetzt William Grimshaw besuchen? Er verzehrt sich danach, dich zu sehen.«

17
    Flink wie eine Fledermaus glitt die Kutsche durch das finstere Labyrinth der Nebenstraßen. In diesem Teil Darksides war die Armut überall spürbar. Die Straßen waren mit Müll übersät, es roch muffig und die Häuser standen kurz vor dem Zusammenbruch. Auf den Bürgersteigen drängten sich kleine Kinder um spärliche Lagerfeuer. Ihre zerschlissene Kleidung hing von ihren ausgemergelten Gliedmaßen herab. Sie blickten auf, als die Kutsche an ihnen vorbeirauschte, und starrten neidvoll in den Innenraum.
    Zu diesem Zeitpunkt hätte Jonathan trotz der Kälte und des Regens gerne mit ihnen die Plätze getauscht. Er saß auf seinen Händen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Marianne hatte den Dolch neben sich auf die Sitzbank gelegt, eine kleine Dose unter ihrem Kleid hervorgezogen und puderte sich das Gesicht.
    »Ich sollte ernsthaft darüber nachdenken, einer anderen Tätigkeit nachzugehen«, sinnierte sie. »Diese ständigen Kämpfe sind Gift für meine Haut. Wenn es nur nicht so gut bezahlt würde …«
    Jonathan schwieg.
    »Was ist denn, mein Kleiner? Bist du böse auf mich?«
    »Ich will nach Hause«, erwiderte Jonathan trotzig. »Lass mich hier raus!«
    »Ich wünschte, ich könnte dich gehen lassen. Aber dafür bist du viel zu wertvoll, mein Kleiner.«
    Sie lehnte sich vor und strich ihm mit dem Finger über die Wange. Der vertraute Duft ihres Parfüms stieg Jonathan wieder in die Nase.
    »Du magst jetzt böse auf mich sein, aber du wirst mir verzeihen. Denn ich weiß, wie einzigartig und besonders du bist. Hat man dir je gesagt, wie einzigartig und besonders du bist?«
    Er schüttelte langsam den Kopf und versuchte, den Blickkontakt zu vermeiden.
    »Nun, jetzt weißt du es. Und Grimshaw denkt genauso. Er hat nur eine andere Art, es zu zeigen. Oh, gut. Wir sind angekommen!«
    Die Kutsche bog in eine verwüstete Straße ein, in der die Häuser in Schutt und Asche lagen. Zwischen den Ruinen war kein Zeichen von Leben zu erkennen. Inmitten dieser Ödnis entdeckte Jonathan ein baufälliges Konzerthaus, umgeben von einem kleinen, eingezäunten Garten, der es gegen die raue Außenwelt abschirmte. Als die Kutsche sich dem Gebäude näherte, sah er, dass sich im Garten viele Darksider drängten. Sie trugen dunkle Anzüge und lange Abendkleider, aber ihre Augen wurden von einem wilden Blick beherrscht, als stünden sie unter Drogen. Flammen loderten aus drei Meter hohen Kohlepfannen und tanzten über ihren Köpfen.
    Auf dem Fahrersitz zog Humble die Zügel an und brachte die Kutsche zum Stehen. Jonathan erstarrte auf seinem Sitz und hatte plötzlich Angst, auszusteigen. Die mit Eisenplatten beschlagenen Eingangstüren des Konzerthauses waren geschlossen. Zu beiden Seiten thronten aus Marmor gehauene Kreaturen auf wuchtigen Sockeln. Links ein Leopard, rechts ein Nashorn. Über dem Eingang hing ein Banner, auf dem zu lesen stand: »William Grimshaws weltberühmtes Kabinett der exotischen Bestien!«. Die Wände hingen voller schmuddeliger Plakate, auf denen reißerische Bilder von Schlangen, Löwen und Spinnen prangten. Jedes dieser Tiere hatte das Maul weit aufgerissen, bereit, über alles und jeden herzufallen. Traurige Klänge klassischer Musik drangen gedämpft von irgendwoher an Jonathans Ohren.
    Immer noch in seinen dicken Kutschermantel gehüllt, öffnete der stumme Riese die Tür der Droschke und zerrte Jonathan ins Freie. Marianne folgte ihm und hob anmutig den Saum ihres Kleides zum Schutz vor dem nassen Kopfsteinpflaster an.
    »Danke, Humble. Das war eine ziemlich außergewöhnliche Fahrt.«
    Der Stumme nickte zur Antwort mit dem Kopf. Anschließend gestikulierte er fragend mit den Händen in Richtung Marianne. Sie rümpfte

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