Die Schattenwelt
in einem Laborversuch fühlte. Bei all den lärmenden Maschinen, den zischenden Dampfwolken und den sich unaufhörlich aufblähenden Rauchschwaden sah er jedoch keinen einzigen Arbeiter. Fensterlose Mauern verbargen die Darksider, die in ihrem Inneren schufteten.
In einer Gasse lehnten zwei junge Männer untätig an einer Mauer. Ihre schmutzige, zerschlissene Kleidung bedeckte kaum ihre ausgezehrten Gliedmaßen. Als sie Jonathan und Carnegie erspähten, stellten sie sich ihnen in den Weg. Einer von ihnen zog ein rostiges Messer aus seiner Tasche und fuchtelte damit Carnegie unter der Nase herum.
»Her mit eurem Geld«, zischte er durch seine fauligen Zähne.
Der Wermensch schüttelte den Kopf.
»Das kann ich nicht machen, Jungs.«
»Her mit dem Geld oder ich schlitz dich auf!«
»Kennen wir uns nicht? Ich bin Carnegie.«
Bei der Nennung dieses Namens wurde der andere Dieb blass. Er zerrte seinen Kumpanen hektisch am Ärmel und bedeutete ihm, dass sie verschwinden sollten. Carnegie beobachtete ihren Rückzug mit gütigem Interesse.
»Stimmt, Jungs. Ihr habt einen schwerwiegenden Fehler gemacht. Solltet ihr nicht lieber weglaufen?«
Er legte den Kopf in den Nacken und lies ein lautes Heulen ertönen, das an den Fabrikwänden widerhallte. Als er die zwei Diebe flüchten sah, musste Jonathan an Raquellas Worte auf der Hauptstraße denken: Jeder kennt Carnegie .
Zwei Straßen weiter stellte er fest, dass der Gedanke an Vendettas Dienstmädchen ihn nur noch mehr verwirrte. Sie hatte ihn offensichtlich im Glashaus wiedererkannt. Er hatte ihr ja gesagt, dass sein Name Jonathan sei. Warum hatte sie nichts gesagt, als er mit einem anderen Namen vorgestellt wurde? Wenn Vendetta herausfand, dass sie wusste, wer er war … Jonathan dachte an den Toten im Glashaus und erschauderte.
Sie waren bereits einige Zeit unterwegs und seine Wunde begann wieder zu schmerzen. Er blieb stehen, beugte sich vor und hielt die Hand auf die Wunde. Carnegie beobachtete ihn besorgt.
»Alles in Ordnung, Junge?«
»Ja. Bin nur ein bisschen müde.«
»Bereitet die Wunde dir Schmerzen?«
»Ein wenig. Wird schon.«
Carnegies Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Das ist sehr tapfer von dir, aber wir nehmen jetzt ohnehin eine Droschke. Wir kommen gleich auf die Princeville-Straße. Dort werden wir eine finden.«
Sie betraten eine breitere Straße, die von zahllosen schmalen Häusern gesäumt war. Carnegie vertrieb ein paar kleine Kinder von einer Türstufe und bedeutete Jonathan, sich hinzusetzen. Der Regen war stärker geworden und trommelte nun auf das Kopfsteinpflaster. Auf der Straße war weit und breit keine Kutsche zu sehen, und Jonathan fragte sich, wie lange sie wohl warten müssten, bis eine vorbeikäme. Schließlich konnten sie nicht einfach zum Telefon greifen und eine Droschke rufen.
Es dauerte jedoch gar nicht so lange. Nach wenigen Minuten rollte eine Droschke sanft an den Bürgersteig heran.
»Fitzwilliam-Straße«, kläffte Carnegie.
Der Fahrer war mit einem dicken braunen Umhang und einem Hut gegen das Wetter geschützt. Er nickte und deutete auf die Tür. Die Pferde scharrten ungeduldig mit den Hufen und Carnegie half Jonathan die Stufen hinauf in die Kutsche.
Im Inneren des Wagens war es eng und düster, aber Jonathan erschien es wie das Paradies. Es roch sogar irgendwie vertraut. Carnegie folgte ihm und bückte sich, um durch die Tür zu passen. Eine Dame besetzte bereits einen der Plätze. Sie trug schwarze Trauerkleidung und ihr Gesicht verbarg sich hinter einem Schleier.
»Oh, entschuldigen Sie«, stammelte Jonathan. »Ich habe nicht bemerkt …«
»Das macht nichts«, erwiderte die Witwe.
Sie flüsterte, sodass man sie kaum verstehen konnte.
»Ich teile gerne meine Kutsche mit Ihnen. Bei diesem Wetter sollte man nicht draußen in der Kälte stehen und warten müssen.« Sie machte eine Pause. »Und es ist schön, Gesellschaft zu haben.«
Carnegie nahm seinen Hut ab, schüttelte sich kräftig und spritzte Wassertropfen quer durch den Wagen.
»Verzeihung«, murmelte er und wirkte völlig reuelos.
»Guten Abend, Sir. Fahren Sie weit?«
»Fitzwilliam-Straße.«
»Was für ein erfreulicher Zufall. Dort fahre ich auch hin.«
Die Witwe lehnte sich sichtlich zufrieden zurück. Jonathan legte seinen Kopf gegen die Tür der Kutsche und genoss den Klang der Regentropfen, die gegen die Scheibe klopften. Sie näherten sich immer weiter dem Zentrum des Sturms, und der Donner grollte beständig über ihren Köpfen,
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