Die Schattenwelt
ein billiger Botenjunge. Was glaubst du, wie knapp es zwischen uns werden könnte?«
Es kam keine Antwort, nur ein leises Zischeln.
»Ich stimme dir zu. Und jetzt verschwinde und bring Marianne die gute Nachricht.«
Der andere Mann rappelte sich auf. Shaw wurde plötzlich klar, dass er mächtig Ärger bekommen würde, falls Roberts herausfand, dass er gelauscht hatte. Er zog seinen Kopf vom Tor zurück und konnte einen kurzen Blick auf das Gesicht des Reptilienmannes erhaschen. Es war grau und pockennarbig. Die Haut schälte sich und hing in Fetzen herunter. Der Mann musste irgendeine furchtbare Hautkrankheit haben, denn er sah nicht menschlich aus. Shaw wurde übel und er lehnte sich einen Moment keuchend an die Wand. In der Garage heulte der Motor auf und das Motorrad donnerte auf die Straße hinaus. Shaw fasste sich wieder und lief mit flatterndem Mantel zum Mercedes zurück. Er drückte hektisch auf die Fernbedienung, öffnete die Autotür und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Eine Sekunde später tauchte Roberts auf und schloss das Garagentor. Er marschierte einem Geschäftsmann gleich auf den Wagen zu und stieg ein.
Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es Shaw, beim Sprechen nicht schwer zu atmen.
»Wie lief das Treffen, Sir?«
Roberts bedachte ihn mit einem breiten Grinsen.
»Erstaunlich ruhig, Shaw. Ich habe meine Überzeugungskraft nicht verloren. Das wird hoffentlich deutliche Auswirkungen auf den Fall haben. Nun denn. Ich könnte einen Mord begehen für ein Curry. Wie steht es mit Ihnen?«
16
Carnegie und Jonathan marschierten schweigend durch Savage Row. Der Regen tropfte durch die Blätter der Bäume. Der Himmel war bedrohlich schwarz und der eisige Wind nagte an ihren Ohren und Fingerspitzen wie ein kleiner, zorniger Hund. Im Inneren des großen Herrenhauses vertrieben sicherlich Leuchter und knisternde Kaminfeuer die Kälte und die Dunkelheit, aber hier draußen waren sie ihnen ausgeliefert. Blitze erleuchteten den Himmel über den Dächern und Schornsteinen der Häuser, die sich um die Hauptstraße drängten.
Regentropfen fielen von Carnegies Hutkrempe auf sein Gesicht herab. Er trabte die Straße entlang, die Hände tief in seinen Hosentaschen verborgen. Einmal schien es so, als wolle er etwas zu Jonathan sagen, dann biss er sich jedoch auf die Lippe und wandte sich wieder ab. Jonathan fühlte sich durch und durch elend, folgte ihm und wünschte sich, dass er irgendwo drinnen wäre. Er hätte alles gegeben, nur um wieder in seinem Schlafzimmer in London zu sein und im Bett fernzusehen, aber das erschien ihm nun wie eine andere Welt. Zu diesem Zeitpunkt hätte er sich schonmit dem spärlichen Komfort von Carnegies Räumlichkeiten zufrieden gegeben.
Er schloss zu dem Wermenschen auf und tippte ihm auf die Schulter.
»Hör mal, es tut mir leid, dass ich dir so viel Ärger eingehandelt habe …«
Carnegie verzog das Gesicht.
»Das ist schon in Ordnung, Junge. Ich bin an Ärger gewöhnt. Obwohl das hier selbst nach meinen Maßstäben ein Haufen Ärger ist.«
»Es ist alles meine Schuld. Ich hätte niemals hierherkommen dürfen«, erwiderte Jonathan verbittert.
»Dein Vater weiß, was er tut. Wenn er gedacht hätte, dass du in Lightside sicher bist, hätte er dich nicht hierhergeschickt.«
»Ich fühle mich hier aber auch nicht wirklich sicher.«
»Nein«, gab Carnegie zu. »Da hast du recht. Aber mach dir keine Sorgen. Erst kümmern wir uns um Marianne, danach um Vendetta, und dann bringen wir dich zu Alain zurück. Alles wird gut werden.«
Jonathan blickte ihn zweifelnd an.
»Glaubst du das wirklich?«
»Nö. Aber du musst optimistisch an die Sache rangehen. Ich meine, ich war so kurz davor, dich zu fressen. Aber du bist immer noch am Leben, oder?«
»Wenn du mich hier rausholst«, sagte Jonathan traurig, »dann kannst du meine Hand haben. Vendetta wird sie mir ohnehin abhacken, also brauche ich sie nicht mehr.«
Carnegie lachte schallend auf, wuschelte Jonathan durch die Haare und dachte darüber nach, dass die Lage trotz allem noch schlechter sein könnte.
Sie setzten ihren langen Weg ins Zentrum von Darkside fort. Teilweise wurden die teuren Häuser mit ihren Bäumen von großen Fabriken überschattet und von den schwarzen Rauchsäulen, die aus ihren Schornsteinen aufstiegen. Carnegie lenkte ihren Weg durch ein Gewirr von Nebenstraßen und Gassen, wobei er nie zögerte oder falsch abbog. Die Fabrikmauern waren so hoch und unerbittlich, dass Jonathan sich wie eine Ratte
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