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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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dass man meinen konnte, der schwarze Himmel würde zerbersten. Hin und wieder zerriss ein Blitz die Dunkelheit und tauchte die Kutsche in grelles weißes Licht.
    Die schmerzende Wunde und der lange Fußmarsch hatten Jonathan erschöpft. Er war trotz der tosenden Naturgewalten schon fast eingeschlafen, als die Witwe ihm gegenüber ihre Haube zurechtrückte. Ein einzelnes strahlend weißes Haar fiel ihr in den Schoß undhob sich deutlich von den schwarzen Falten ihres Rocks ab. Aus den Gewitterwolken grollte ein weiteres gewaltiges Donnern und Jonathan durchfuhr eine Welle der Angst.
    »Carnegie!« schrie er. »Das ist Marianne!«
    Neben ihm war der Wermensch unter der Wirkung von Mariannes betäubendem Duft zusammengesackt. Marianne kicherte, lüftete ihren Schleier und gab den Blick auf ihre blasse Haut frei.
    »Hallo, Jonathan. Du hast doch nicht geglaubt, dass wir dich vergessen haben, oder?«
    Sie zog einen schmalen Dolch aus ihrem Stiefel. Carnegie schlug sich selbst mit der flachen Hand ins Gesicht, um die Benommenheit zu vertreiben. Marianne lachte.
    »Ihr seht beide müde aus. Warum schlaft ihr nicht einfach weiter?«
    Carnegie wollte sich auf sie stürzen, aber er war seiner Kräfte beraubt. Die wilde Bestie, die Jonathan angefallen hatte, kam nicht zum Vorschein. An ihrer Stelle saß ein großer, erschöpfter Mann. Seine langsamen Bewegungen standen im deutlichen Gegensatz zu Mariannes Schnelligkeit und Präzision. Sie schwang den Dolch und schnitt ihm quer über den Arm. Der Wermensch schrie vor Schmerz auf. Er versuchte, mit der anderen Hand zuzuschlagen, doch er verfehlte Marianne völlig. Stattdessen zerschmetterte seine Faust das Fenster, sodass Regen und Wind in die Kutsche drangen.
    Jonathan begriff, dass genau das Carnegies Plan gewesen war. Sofort war sein Kopf wieder klarer. DerWermensch lag mit blutendem Arm am Boden der Kutsche. Marianne fluchte und versuchte ihm den Dolch in den Rücken zu rammen, aber Jonathan bekam einen Fuß frei und trat ihr die Waffe aus der Hand.
    Oben auf dem Dach peitschte der Kutscher die Pferde unerbittlich und trieb sie an, schneller und schneller zu laufen. Die Kutsche preschte durch die Nacht dahin. Sie schaukelte wild hin und her wie ein Boot in einem Sturm, sodass es für alle nahezu unmöglich war aufzustehen. Als Marianne die Hand nach ihrem Dolch ausstreckte, lenkte der Kutscher ruckartig nach links, wobei alle drei Insassen gegen die Tür geschleudert wurden. Für eine Sekunde spürte Jonathan, wie Carnegies schweren Körper gegen ihn gepresst wurde, und er fühlte Mariannes Atem an seinem Ohr, bevor die Kutsche sich wieder aufrichtete und sie alle zu Boden fielen.
    Carnegie ächzte und versuchte, sich hochzuziehen, dann wurde er jedoch von Mariannes Knie zwischen den Rippen getroffen und brach wieder zusammen. Jonathan tauchte ab und bekam den Griff des Dolchs zwischen seine Finger. Marianne stürzte sich auf ihn und grub ihre Fingernägel in seine Haut. Sie versuchte, die Waffe aus seiner Hand zu lösen. Während sie über den Boden rollten, drang vom Dach der Kutsche ein lautes Kratzen an sein Ohr. Er starrte nach oben und das Herz blieb ihm beinahe stehen, als er Skeets spitzen Glatzkopf am oberen Rand des Fensters auftauchen sah. Unbeeindruckt von der halsbrecherischenGeschwindigkeit der Droschke schwang sich die Kreatur von der Gepäckreling herab, landete mit den Füßen auf dem Trittbrett vor der Tür und presste sich flach gegen die Seite des Fahrzeugs.
    »Carnegie! Wach auf! Skeet kommt!«
    Als Antwort ertönte ein wütendes Knurren, und Jonathan spürte plötzlich, wie Marianne von ihm runtergezogen wurde. Der Wermensch schleuderte sie auf den Sitz und wirbelte herum, um der nächsten Bedrohung zu begegnen. Er kam gerade rechtzeitig. Skeet hatte die Tür aufgerissen und stand bereits im Inneren der Kutsche. Er ging auf Carnegie los und zielte mit seinen Fingern auf dessen Augen. Der Detektiv schlang die Arme um ihn und warf ihn zu Boden. In dem Tumult bekam Marianne einen fehlgeleiteten Stiefeltritt gegen das Kinn, der sie quer durch den Wagen der Länge nach hinstreckte. Hinter ihrem Kopf sprang die Wagentür wild auf und zu. Die Kopfgeldjägerin rollte sich in die Ecke und schrie, so laut sie konnte.
    »Humble!«
    Auf dieses Signal hin riss der Kutscher die Zügel nach rechts herum, und der Wagen neigte sich so stark, dass er auf zwei Rädern um die Kurve fuhr. Jonathan wurde in die Ecke der Sitzbank geschleudert. Der Schmerz ließ den Dolch aus

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