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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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ungerührt.
    »Grimshaw hat mal wieder die Scheiben von den Zellen entfernen lassen«, sagte sie. »Wir müssen unbedingt die Augen offen halten.«
    »Hätten wir nicht irgendetwas unternehmen sollen?«, fragte Jonathan und starrte gebannt auf die Szenerie vor sich.
    »Was denn bitte? Er war in dem Moment bereits ein toter Mann, als er der Schlange zu nahe gekommen war. Nun pass um Himmels willen auf, wo du hintrittst.«
    Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, drückte sie sich an der am Boden liegenden, gekrümmten Gestalt des alten Mannes vorbei. Sein Kopf war blau angelaufen und sein verzerrtes Gesicht spiegelte sein Entsetzen wider. Die Schlange hatte sich um ihn gewickelt und schien von dem Tumult unbeeindruckt, lediglich ihre Zunge tastete heimtückisch und gierig durch die Luft. Jonathan begegnete ihrem starren Blick und schlich sich vorsichtig um sie herum.
    Nach einigen Minuten der Anspannung erreichten sie das Ende des Korridors, der in einem großen, runden Saal im Herzen des Kabinetts mündete. Zahllose Sitzreihen führten hinab zu einer tiefer gelegenen Bühne in der Mitte des Saals. Auf einem Balkon, von dem aus man die Bühne überblicken konnte, dirigierte ein Kapellmeister ein Orchester. Es spielte ein schauriges Klagelied. Diejenigen aus dem Publikum, die denMarsch durch den roten Korridor überlebt hatten, waren nun im Raum verteilt. Sie warteten in völliger Stille und konzentrierten sich auf die leere Bühne vor ihnen.
    »Worauf warten die?«
    »Auf den Höhepunkt der Show. Dann werden die richtig gefährlichen Tiere losgelassen. Da wollen wir nicht dabei sein. Komm schon. Wir gehen hinter die Bühne.«
    Marianne und Humble liefen einen Gang zwischen zwei Sitzreihen entlang und steuerten auf eine Tür in der Wand links neben der Bühne zu. Auf einem handgeschriebenen Schild neben der Tür stand »Äußerste Gefahr! Nur für Fachleute! Zutritt verboten!«. Diese Warnung erschien Jonathan ein wenig unnötig, in Anbetracht der Tatsache, dass im »Kabinett der exotischen Bestien« hinter jeder Ecke große Gefahren zu lauern schienen. Trotzdem folgte er seinen Entführern durch die Tür.
    Sie betraten eine hohe Halle, in der hektische Betriebsamkeit herrschte. Die Luft war vom Kreischen und Fauchen unzähliger Tiere erfüllt. Es gab Käfige, so weit das Auge reichte. Sie standen auf dem Boden, waren übereinandergestapelt und hingen sogar von der Decke. In jedem war ein seltenes Tier gefangen. Vor Jonathan lief ein langbeiniger Gepard mit stumpfem Fell nervös in seinem Käfig auf und ab. Zu seiner Linken hing eine riesige schwarze Witwe von der Decke ihres Käfigs herab und an der Spitze eines Turmes aus Vogelkäfigen sang ein stolzer Paradiesvogelsein Lied. Handlanger in langen braunen Overalls hasteten zwischen den Käfigen umher und wichen den Fellbergen und Federnhaufen aus, die den Boden bedeckten. Es roch durchdringend nach Angst und Verzweiflung.
    In der hinteren Ecke stand ein Mann auf einem hölzernen Laufsteg, der um den oberen Rand eines gläsernen Aquariums herumführte. Er warf Fleischstücke aus einem Eimer in das Wasser und verursachte damit ungestüme Hektik unter den unsichtbaren Bewohnern des Beckens. Dünne Blutspuren durchzogen das Wasser.
    »Grimshaw!«
    Der Mann stellte den Eimer ab. Er wartete, bis Marianne und ihre Begleiter die Stufen zum Laufsteg erklommen hatten. Im Vorbeigehen sah Jonathan aus dem Augenwinkel die scharfen, dunklen Umrisse der Kreaturen das Wasser durchschneiden und entdeckte ein Schild auf dem »Grimshaws Becken der Schrecken« stand. Jonathan klammerte sich an das Geländer und hielt sich, so weit es ging, vom Beckenrand fern. Zum ersten Mal seit einiger Zeit kam ihm wieder der Gedanke zu fliehen. Doch Humble behielt ihn stets im Auge, und außerdem schien es noch gefährlicher, sich allein im »Kabinett der exotischen Bestien« aufzuhalten. Zumindest zu diesem Zeitpunkt.
    »Ah, Marianne, mein Liebling.«
    Grimshaw verneigte sich und küsste theatralisch ihre Hand. Er war gekleidet wie ein Zirkusdirektor, mit rotem Zylinder und Frack. An seinem Gürtel hingeine Peitsche. Doch es war sein Gesicht, das Jonathan Unbehagen bereitete: seine pergamentartige Haut, die jeden Knochen und jede Furche seines Schädels offenbarte, und die verschiedenfarbigen Augen, eines grün, das andere blau.
    »Du bist so reizend.« Sie ging in die Hocke und starrte ins Wasser. »Was hast du da drinnen? Piranhas?«
    »Nein. Die Zuschauer haben genug von Piranhas. Wir haben

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