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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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Minuten, ehe sie zurückkehren würden. Dies war seine letzte Chance. Er legte den Kopf in den Nacken, um dem Riesen in die Augen blicken zu können.
    »Hallo, da oben!«
    Humble starrte ihn ausdruckslos an.
    »Ich weiß, dass Marianne dir bestimmt einen Haufen Geld dafür zahlt, dass du das hier machst. Abermein Vater würde sich wirklich freuen, mich wiederzusehen. Ich wette, er zahlt dir noch mehr, wenn du mich zurückbringst. Warum gehen wir nicht zu ihm und schauen, ob ich recht habe?«
    Ein leichtes Lächeln breitete sich langsam auf dem Gesicht des Riesen aus und er schlug Jonathan mit der flachen Hand auf die Stirn. Vermutlich sollte es eine freundschaftliche Geste sein, aber der Aufprall ließ Jonathan taumeln und sein Kopf dröhnte.
    »Das heißt dann wohl Nein.«
    Humble deutete auf den leeren Käfig, der von der Decke hing, und legte warnend seinen Finger an die Lippen. Es gab keinen anderen Ausweg. Jonathan musste versuchen, den Riesen zu überwältigen. Er wusste, dass das verrückt war, aber vielleicht hatte er Glück. Immerhin hatte er noch den Dolch von Alains Krankenstation in seiner Tasche. Vielleicht würde Humble ausrutschen und ins Wasser fallen. Vielleicht würde er stolpern, mit dem Kopf gegen das Geländer schlagen und das Bewusstsein verlieren. Alles Mögliche könnte passieren …
    Jonathan überlegte noch, ob er besser auf Humbles Arme oder seine Beine losgehen sollte, als etwas Schweres auf den Stummen herunterfiel und sie beide in die Tiefen des »Beckens der Schrecken« stürzten.

18
    Das Aquarium war irgendwann im Laufe des Tages hinter die Bühne geschoben worden. Ricky döste vor sich hin, aber das dumpfe Rollgeräusch der Konstruktion und das Quietschen und Ächzen der Räder hatten ihn aufgeweckt. Grimshaws Handlanger mit den braunen Overalls umschwärmten das Aquarium wie die Fliegen und hievten und schoben es durch das Labyrinth der Käfige. Es war kaum zu glauben, dass es möglich war, das »Becken der Schrecken« zu bewegen. Wasser schwappte über den Rand, während die Helfer es in die Ecke genau unter seinen Käfig manövrierten.
    Das Aquarium unter ihm beunruhigte Ricky noch mehr als der harte Steinboden zuvor. Er hatte am Vorabend die Rufe und Schreie aus der Haupthalle gehört, und er wusste, dass die schwarzen Schatten, die unter der Wasseroberfläche unablässig ihre Bahnen zogen, dafür verantwortlich gewesen waren. Das Schlimmste war die Fütterungszeit. Selbst aus zehn Metern Höhe war das Sprudeln und Schäumen des Wassers und das Blut, das sich wie Tintenflecke ausbreitete, ein schrecklicher Anblick. Ricky fiel auf, dassGrimshaw stets zur Stelle war, um die Fische zu füttern. Schaufelweise warf er die Fleischbrocken aus seinem Eimer in das Wasser und summte angesichts des Gemetzels fröhlich vor sich hin.
    Die meiste Zeit versuchte Ricky zu schlafen. Er hoffte, dass er einfach wieder zu Hause in seinem Zimmer aufwachen würde, mit einer Flasche Cola, einer Tüte Chips und einem neuen Comic neben sich auf dem Nachttisch. Natürlich kam es nicht so. Er verbrachte die Zeit, die er wach war, damit, teilnahmslos in die Gegend zu starren. Nur das Heulen und Brüllen der Tiere leistete ihm Gesellschaft. Einige der Schimpansen winkten und blickten ihn so traurig an, als wollten sie ihm zu verstehen geben, dass sie wussten, wie er sich fühlte.
    Dann waren Marianne und der Riese zurückgekehrt und alles hatte sich geändert. Ricky starrte angsterfüllt zwischen den Gitterstäben hindurch und beobachtete den dünnen Jungen mit den braunen Haaren, der von den beiden eskortiert wurde. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Die kleine Gruppe marschierte auf den Laufsteg hinauf und postierte sich direkt unter seinem Käfig.
    Wer auch immer dieser neuer Junge war, er hatte Mut. Er stand aufrecht da und blickte Grimshaw auf eine Weise direkt in seine schrecklichen Augen, von der Ricky nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Nachdem Marianne und Grimshaw den Raum verlassen hatten, sagte er irgendetwas zu dem Riesen, das ihm einen schallenden Schlag einbrachte. In diesemMoment erkannte Ricky, dass er etwas unternehmen musste, oder sie würden beide sterben.
    Ricky konnte sich nicht erklären, was ihn dazu brachte, seine Jacke auszuziehen und sich zwischen den Gitterstäben hindurchzuzwängen. Das Blut pulsierte in seinen Adern, und sein Herz drohte zu zerplatzen, aber sein Kopf war seltsam klar. Er glitt durch die Gitterstäbe und stellte seine Füße auf den schmalen Absatz

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