Die Schattenwelt
außerhalb des Käfigs. Es war gar nicht so schwierig. Ihm ging jedoch auf, warum man sich keine Gedanken darüber gemacht hatte, dass der Abstand der Gitterstäbe so groß war: weil der Käfig sehr weit oben hing.
Die Gewichtsverlagerung ließ den Käfig hin und her schwingen. Ricky spürte den Wind im Gesicht. Der Stumme stand genau unter ihm – jedoch sehr tief unter ihm. Zum ersten Mal kamen ihm leichte Zweifel. Das war Wahnsinn. Er konnte nicht sicher sein, dass er den Sprung überleben würde. Ricky dachte daran, wieder durch die Stäbe in den Käfig zurückzuschlüpfen. Ein Brüllaffe auf dem Boden entdeckte den komischen Menschen, der dort unbeholfen durch die Luft schwang, deutete auf ihn und schrie belustigt. Humble drehte den Kopf in Rickys Richtung und plötzlich war alles sehr einfach. Ricky schloss die Augen und sprang.
Die Dauer des Falls erstaunte ihn. Es konnten nur ein paar Zehntelsekunden sein, aber es fühlte sich viel länger an. Die Welt rauschte an ihm vorbei, er spürte die Schwerkraft und fühlte, wie er immer schwererund schwerer wurde. Er empfand weder Angst noch Freude. Er glaubte, für immer und ewig weiter fallen zu können, so als fiele er vom Rand der Erde herab. Doch dann prallte er mit voller Wucht auf Humble und ihm wurde schwarz vor Augen.
Zuerst registrierte Jonathan nur das kalte Wasser, das ihn wie ein Schock traf. Dann übernahm sein Überlebensinstinkt sein Handeln und er durchbrach prustend die Wasseroberfläche. Jonathan wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und blickte sich um. Er befand sich nahe am Rand in Reichweite der Laufplanke. Humble war nirgends zu sehen, aber ein Junge trieb am anderen Ende des Beckens im Wasser. Er bewegte sich nicht. Jonathan dachte an die Barrakudas und erschauderte vor Entsetzen. Panisch suchte er die Wasseroberfläche ab und entdeckte einen dunklen Schatten, der durch die Wellen pflügte und sich ihm mit hoher Geschwindigkeit näherte. Blitzschnell drehte er sich um und kraulte zum Beckenrand. Er war ein guter Schwimmer und musste nur eine kurze Strecke zurücklegen, aber der Barrakuda war ein Unterwasserjäger. Als Jonathan sich am Beckenrand hochzog, verbiss sich der Raubfisch in seinen Fuß. Jonathan schrie vor Schmerz auf und klammerte sich an das Geländer, um nicht unter Wasser gezogen zu werden. Sich windend schaffte er es, mit dem anderen Fuß dem Kopf des Barrakudas einen Tritt zu versetzen. Der Tritt hatte gesessen, der Fisch ließ ihn los und versank in der Tiefe.
Jonathan zog sich auf die Laufplanke hoch und rollte sich, so weit es ging, vom Beckenrand fort. Das war knapp gewesen. Sein Turnschuh war bei dem Angriff in Stücke gerissen worden und sein Knöchel blutete stark. Ein silbriges Glitzern im Wasser erregte seine Aufmerksamkeit, und er stellte fest, dass ihm bei seiner panischen Flucht der Dolch aus der Tasche geglitten war und nun auf den Grund des Beckens sank. Seine einzige Waffe in diesem Höllenloch war verloren. Für einen kurzen Moment hatte er die wahnsinnige Idee, hinterherzutauchen, aber er schaffte es rechtzeitig, sich zu beherrschen. Es gab Dinge, die jetzt wichtiger waren. Der andere Junge trieb immer noch regungslos im Wasser und die Barrakudas umkreisten ihn. Jonathan hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er konnte unmöglich ins Wasser springen und ihn retten – das hätte für sie beide das Ende bedeutet. Hektisch blickte er sich nach einer Stange um, mit der er ihn aus dem Wasser ziehen konnte, aber er fand nichts dergleichen. Die Barrakudas näherten sich ihrem Opfer. Er konnte nicht hinsehen.
Mit einem lauten Klatschen schoss Humble an die Oberfläche des »Beckens der Schrecken« und ruderte verzweifelt mit seinen langen Armen. Eine kleine Flutwelle breitete sich um seinen Körper aus und klatschte gegen den Laufsteg. Der Riese hatte Schwierigkeiten, sich über Wasser zu halten, und sein Kopf tauchte immer wieder unter. Sein Gestrampel erregte die Aufmerksamkeit der Barrakudas, die sogleich in seine Richtung schwärmten.
Jonathan war augenblicklich klar, dass dies seine Chance war. Er humpelte um das Becken herum, wobei er sein Gewicht auf den unverletzten Fuß stützte. Der erste Barrakuda stürzte sich auf Humble. Der versuchte auszuweichen. Er bewegte sich nicht schnell genug, der Fisch erwischte seinen Finger und Humble öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Die Kraft und die Geschwindigkeit, die er an Land besaß, waren verschwunden. Er war verwundbar und die Barrakudas
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