Die Schattenwelt
gesehen, wie groß er ist?«
Inspektor Shaw stockte der Atem. Grob geschätzt musste die schlaksige Gestalt ungefähr zwei Meter zwanzig groß sein. Hier ging irgendetwas vor sich, das Shaw noch nicht so ganz verstand, aber es wurde immer deutlicher, dass dieser Fall größer und mysteriöser war, als er sich jemals erträumt hatte. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er diese Wocheeine fremdartige Kreatur auf den Straßen Londons gesehen hatte. Eines war klar: Er musste Roberts finden, und zwar schnell.
20
»Wenn du deinen Freund nicht zum Schweigen bringst, dann übernehme ich das.«
Als Jonathan Carnegie sah, wollte er vor Erleichterung aufschreien, aber er bekam keinen Ton heraus. Carnegies Stimme klang tief und belegt und er keuchte wie ein Tier. Der Privatdetektiv hatte sich wieder in das Biest verwandelt. Selbst im schummrigen roten Licht konnte Jonathan erkennen, dass der Wermensch einen erbitterten Kampf hinter sich hatte. Seine Kleidung war zerrissen und auf seiner Wange klaffte eine lange, tiefe Wunde. Das dicke graue Fell in seinem Gesicht war blutverschmiert. Nur der Hut auf seinem Kopf erinnerte noch an Carnegie, den Menschen.
Ricky schwieg nun starr vor Angst. Jonathan zupfte ihn am Ärmel.
»Alles in Ordnung. Ich kenne den Kerl. Er ist ein Freund.«
Carnegie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und starrte die beiden Jungen an. Seine Augen waren trübe und wässrig.
»Wie heißt du, Junge?«
»R – R – Ricky.«
»Du siehst so aus, als hättest du dich verirrt, Junge.«
»Ich wurde entführt«, entgegnete Ricky zögerlich. »Ich war auf einem Schulausflug und dann … Marianne … und jetzt weiß ich nicht, wo ich bin.«
Carnegie nickte bedächtig.
»Das ist auch besser so«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Schon gut. Folgt mir.«
Der Wermensch drehte sich um und marschierte den Korridor entlang. Er hinkte stark.
»Geht es dir gut?«, fragte ihn Jonathan nervös.
»Prima. Ging nie besser.«
»Woher wusstest du, wo du uns findest?«
»Ich habe ein ernstes Wörtchen mit Skeet gesprochen. Ich konnte ihn überzeugen, mir alles zu erzählen.«
»Was hast du mit ihm angestellt?«
Carnegie verzog das Gesicht und fletschte die Zähne.
»Genug Fragen.«
»Oh. Okay. Entschuldigung.«
Sie setzten vorsichtig ihren Weg durch den düsteren Gang fort. Glasscherben knirschten unter ihren Füßen. Jonathan hielt nach wilden Tieren Ausschau, aber es schien, als seien sie von dem gleichen Fluchtimpuls angetrieben worden wie alle anderen, und so lauerte ihnen niemand auf.
Sie näherten sich dem Ausgang, als die klassische Musik, die ihren Einzug begleitet hatte, nochmals aufbrandeteund Ricky erschrocken zur Seite sprang. Die Musik dröhnte so laut, dass jeder falsche Ton der Streicher in Jonathans Ohren schmerzte.
»Die Show ist vorbei!«, brüllte Carnegie und übertönte den Lärm. »Grimshaw öffnet die Eingangstüren.«
»Wofür? Sind doch alle tot!«
»Wir leben noch, oder?«
Sie bogen um eine weitere Ecke und sahen die Ausgangstüren des »Kabinetts der exotischen Bestien« weit offen stehen. Auf Jonathan wirkte der Nachthimmel von Darkside so verlockend wie nie zuvor. Er konnte es keine Sekunde länger in diesem grauenhaften roten Korridor aushalten. Ricky und er beschleunigten ihre Schritte, überholten Carnegie und stürzten zur Tür.
Sie liefen hinaus in den nächtlichen Garten und atmeten erleichtert auf, als sie die Türen passiert und das Horrorhaus hinter sich gelassen hatten. Die Feuer waren heruntergebrannt und der Mond hing tief über der Stadt. Ricky lächelte und drehte sich zu Jonathan um, aber dann erstarrte er und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Aus dem Schatten des Hauptportals trat William Grimshaw. Das Licht der Fackeln spiegelte sich in seinen unterschiedlich farbigen Augen. Seine Peitsche ruhte, wie eine Schlange zornig bebend, in seiner Hand.
»Wollt ihr schon gehen, Jungs? Ihr habt doch noch gar nicht die Show gesehen.«
Jonathan schielte nervös zur Tür hinüber und just in diesem Moment bückte sich Carnegie durch sie hindurch.Grimshaw erblickte ihn und machte ein überraschtes Gesicht.
»Carnegie! Was suchst du hier?«
Der Wermensch nickte in Richtung der Jungen.
»Die beiden da. Hast du ein Problem damit?«
»Offen gestanden, ja. Es hat mich viel Zeit und Geld gekostet, diese beiden jungen Menschen in die Finger zu bekommen, und nun sieht es so aus, als versuchten mich die Leute zu betrügen.«
»Das Leben ist hart.
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