Die Schattenwelt
Tagen seltsam unberechenbar gewesen. Er hatte Raquella angebrüllt, als sie ihm das Mittagsessen serviert hatte, und sich hinterher reumütig bei ihr entschuldigt. Solche Stimmungsschwankungen waren ungewöhnlich für ihn. Sie machten Raquella nervös, und sie war froh, dass er sie jetzt allein gelassen hatte.
Was auch immer ihren Herrn so negativ beeinflusst hatte, sie war sich sicher, dass es etwas mit Carnegie und dem Jungen namens Jonathan zu tun hatte. Selbst jetzt konnte sie sich immer noch nicht erklären, warum sie Vendetta nicht erzählt hatte, dass der Junge bezüglich seines Namens gelogen hatte. Jonathan hatte etwas an sich, eine Mischung aus Verletzlichkeit und innerer Stärke, die sie dazu brachte, ihm helfen zu wollen. Und jetzt , sprach sie grimmig zu sich selbst, wirst du wahrscheinlich dafür bezahlen müssen. Sollte Vendetta das jemals herausfinden … Trotz der Hitze im Raum fröstelte Raquella. Sie wusste, was mit den anderen geschehen war, die ihren Herrn hintergangen hatten.
Es war nun beinahe drei Jahre her, dass die Kutsche vor ihrem Haus in einem ärmlichen Darkside-Viertel namens Lower Fleet angehalten hatte. Niemand in der Gegend hatte je ein solch teures Gefährt gesehen. Schmutzige Kinder rannten herbei, um die wundervollen Holzverzierungen zu berühren und ihre Nasen an die Scheiben zu drücken. Raquella, das älteste von sechs Kindern, war gerade damit beschäftigt, ihre jüngere Schwester zu baden, und an ihrer Nase hing Seifenschaum. Sie bekam nicht mit, was vor sich ging, bis ihre Eltern sie riefen und sie Vendetta würdevoll in der Eingangshalle stehen sah. Seine blauen Augen suchten die Umgebung ab und registrierten gnadenlos jeden Fleck, jede Schramme und jedes beschädigte Möbelstück. Auf seinen schmalen, eleganten Gesichtszügen hatte sich ein spöttisches Lächeln geformt.
Sichtlich beeindruckt, dass ein solch erlesener Gast ihr Haus beehrte, stammelten Raquellas Eltern ein paar Entschuldigungen.
»Mister Vendetta benötigt ein neues Dienstmädchen.«
»Und er ist der Meinung, dass du für ihn arbeiten solltest!«
»Gütiger Himmel. Sind das nicht wundervolle Neuigkeiten, Raquella?«
Sie krempelte energisch ihre Ärmel um und würdigte ihn keines Blickes.
»Vermutlich. Wie viel bringt die Stelle?«
Ihre Mutter schnappte nach Luft.
»Raquella! Du kannst doch nicht in diesem Ton mit Mister Vendetta sprechen. Es tut mir leid, Sir. Meine Älteste leidet unter einem losen Mundwerk.«
Der Bankier überging ihre Entschuldigung.
»Kein Problem. Das Mädchen ist ehrgeizig und strebt nach Profit. Nicht gerade die schlechtesten Charaktereigenschaften.«
Raquella erwiderte seinen abschätzenden Blick.
»Darum geht es mir nicht. Ich habe lediglich viele Brüder und Schwestern, die ich unterstützen muss.«
Es entstand eine lange, eisige Pause.
»Du weißt, dass die Arbeit auf Vendetta Heights gewisse … Gefahren birgt. Dienstmädchen mit einem losen Mundwerk können in Schwierigkeiten geraten.«
Raquella wusste das nur allzu gut. Gerüchte über Tote und Verschollene auf Vendetta Heights sprachensich sogar bis in die heruntergekommensten und überfülltesten Häuser in Lower Fleet herum. Doch ihr Vater suchte vergeblich nach einer Arbeitsstelle und ihre Mahlzeiten wurden kleiner und kleiner. Welche Wahl hatte sie schon?
»Wenn sie die Güte besitzen, mich einzustellen, dann werde ich alles tun, um ihr Vertrauen zu verdienen.«
Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund.
»Vielleicht kommen wir doch miteinander zurecht.«
Und auf eine gewisse Weise war es so. Es gab immer noch Zeiten, in denen Raquella sprach, ohne nachzudenken, die Augen ihres Herrn hasserfüllt funkelten, und ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Aber sie überlebte seine Bestrafungen, und das monatliche Gehalt ermöglichte es ihr, das Leben ihrer Familie zu verbessern. Vendetta schätzte ihren aufmerksamen Service und ihre schnelle Auffassungsgabe genügend, um sie am Leben zu lassen, und gelegentlich vertraute er ihr sogar. Trotzdem fiel es ihr schwer, dafür dankbar zu sein, dass sie aus der Mitte ihrer Familie gerissen worden war, um diesem kalten und grausamen Mörder zu dienen. Vielleicht hatte sie deshalb Jonathan geholfen. Vielleicht hatte es aber auch gar nichts mit ihm oder Carnegie zu tun. Vielleicht wollte sie einfach nur Vendetta bestrafen.
Im Kamin knackte lautstark ein Scheit und Raquella erschrak. Sie hatte sich zu lange ihren Tagträumen hingegeben. Sie musste noch das Silber
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