Die Scheune (German Edition)
Anzeichen von Einschüchterung. Im Gegenteil, er ist Dane gegenüber sehr angetan. Dane hat ihn im Oktober sogar zu uns auf die Farm eingeladen.“
„Sehen Sie Sarah, da beginnt schon unser Problem. Die Geschichte läuft in die Zweideutigkeit. Gesetz dem Fall, dass Dane diesen kleinen Kerl einfach nur mag, tun wir ihm großes Unrecht an, wenn wir ihm einen eventuell anbahnenden oder geplanten Missbrauch unterstellen. Eine solche Veranlagung geht manchmal merkwürdige Wege. Aber deswegen können wir nicht in jeder normalen Situation eine Gefahr suchen.“
Sarah nickte. „Wie fängt denn eine solche Veranlagung an, sich zu zeigen?“
Der Duschzwang, dachte Hendell, und er wusste, dass Sarah das gleiche dachte. Eine Weiche wäre damit ohne weiteres gestellt.
„Es ist natürlich sehr schwer, jetzt alles richtig zu beurteilen – zumal Ihr Mann nicht selbst gekommen ist und mit mir darüber redet. Sie können mir nur Ihre Beobachtungen schildern, aber leider nicht seine Gedanken. Die sind der wichtigste Teil, um etwas richtig zu beurteilen. Es gibt so viele seelische Erkrankungen, die fließend ineinander übergehen und nur schwer voneinander abzugrenzen sind.“
„Was ist mit den Neurosen, die Sie eben erwähnt haben?“
„Die könnten eine anfängliche Auffälligkeit sein. Darunter fällt nämlich auch der Zwang.“
„Was sind Neurosen genau?“
„Es gibt Verhaltensmuster, mit denen wir Konflikte bewältigen. Diese Verhaltensmuster erlernen wir in der Kindheit und Jugend, und wenn diese Zeit weitgehend unter normalen Umständen verlaufen ist, funktionieren die erlernten Verhaltensmuster auch immer, und wir können problemlos Beziehungen knüpfen und ein ausgeglichenes Leben führen. Neurosen sind auch Verhaltensmuster, mit denen wir Konflikte zu bewältigen versuchen, aber wenn man als Kind schon mit neurotischen Störungen gelebt hat, passen die erlernten Verhaltensmuster nicht mehr zu den Konfliktlösungen im späteren Leben –, es entstehen Zwänge, Ängste und Ticks.“
Sarah nickte. „Das könnte doch bei ihm der Fall sein – oder?“
Der Arzt zögerte: „Da sind wir wieder bei dem Wörtchen könnte . Alles bleibt eine Eventualität. Aber um Ihre Frage doch noch zu beantworten: ja ... eigentlich hat jeder von uns im Laufe seines Lebens einmal Zwänge und Ängste. Besonders Ticks. Wir suchen uns dann Partner und Freunde, die zu uns passen und Berufe, in denen wir mit unserem neurotischen Anteil weniger auffallen. Wir suchen uns eine Alltagsbeschäftigung, in der wir mit unseren neurotischen Störungen relativ ausgeglichen leben können.“
Sarah schluckte. Sie passte also zu Dane. Sie war ruhig, geduldig und nachsichtig. Sie bewunderte ihn immerzu ... und lobte ihn. Und wie sie passte!
„Kann sein Beruf in Glendale ein solcher Beruf gewesen sein?“
„Sicher. Wem fällt schon zwischen Temperament, Trubel und Hektik eine neurotische Störung auf? Aber ich sagte eben, jeder von uns hat einen neurotischen Anteil in sich. Und jeder von uns sucht sich die passende Umgebung. Das macht letztendlich die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft aus.“
Sarah dachte plötzlich an die Renovierung des Farmhauses. War es nicht eine nahezu fanatische Aktion gewesen?
„Kann sich eine Neurose noch anders als durch den Zwang bemerkbar machen?“
„Oh, der Zwang ist eine der wesentlichen Beschwerden der Neurosen. Besonders die Charakterneurose. Die schafft sich der Betroffene selbst und passt zu seinem Wesen.“
„Was ist das – eine Charakterneurose?“
„Die Hypochondrie zum Beispiel, obwohl man bei bester Gesundheit ist.“
„Können die Tagebücher seiner Mutter zu einer Hypochondrie führen?“
„Das wäre nicht ausgeschlossen; es wäre denkbar und könnte einiges erklären. Könnte! Er stellt sich zum Beispiel die Merkmale einer geerbten Erkrankung vor, was in diesem Fall die Übelkeit, der Kopfschmerz und der Konzentrationsmangel als beginnende Merkmale sein könnten. Er verbindet das ganze mit dem Zwang und erleidet tatsächlich diese Symptome.“
Sarah rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. „Eine rein gedankliche Abwicklung?“
„Eine rein gedankliche Abwicklung. Wobei später physische Konsequenzen zum Tragen kommen können – ja.“
Sarah schwieg. War seine Übelkeit das Ergebnis seiner Vorstellungskraft?
„Gibt es noch andere Charakterneurosen?“
„Ja. Es gibt die übertriebene Pingeligkeit, obwohl alles bestens aufgeräumt ist.“
Sarah nickte. Das Haus. Alles war bis in
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