Die Scheune (German Edition)
denen sie nichts wusste?
Sie hörte Hendell weiterreden: „Als Sie ihm den Alkohol untersagten, fingen die Auffälligkeiten dann an oder waren sie schon vorher zu beobachten?“
Sarah dachte angestrengt nach. „Danach.“
Alkohol also nicht nur als Beruhigungsmittel – Alkohol für vieles mehr.
„Ich habe ihn einmal in einem apathischen Wippen erwischt.“
„Das könnte ein so genannter Tick sein und fällt auch unter den Beschwerden der Neurosen. Man versteht unter einem Tick eine unbeherrschbare, unmotivierte Körperreaktion nach einer Extremsituation, die der Betroffene nicht mehr bewältigen kann. Ihm ist es dann auch nicht möglich, von alleine damit aufzuhören.“
Nein, dachte Sarah und erinnerte sich wieder an Danes Wippen im Gästezimmer ihrer Eltern, als wäre es eben erst gewesen. Sie hatte eine große Angst dabei verspürt. Er hatte erst damit aufgehört, als sie ihn angeschrien hatte. Gott, wie alles zusammenpasste! Es war der Tag, an dem er mit dem kleinen Dane unterwegs gewesen war!
Sarah rieb sich das Gesicht, als sie es Hendell mitteilte. Jetzt stutzte auch er. Wenn Dane keine wideren Absichten mit dem Jungen hatte, warum fällt er dann anschließend in ein solches Verhalten? War in seinen Gedanken und Gefühlen doch mehr als nur eine normale Zuneigung? Hegte er bereits Pläne mit dem Jungen, als er ihn so freundlich auf seine Farm einlud? Hendell holte tief Luft. Konnte man jetzt noch von Hypothesen sprechen?
Sarah holte ihn aus seinen Gedanken. „Alles zeigt sich bei ihm ohne ein System und immer so anders. Ich kann gar nicht mehr abschätzen, wie er reagiert.“
„Oh, das Ganze ist ganz und gar nicht ohne System. Neurosen entstehen meist in Situationen, in denen man entweder zuviel oder zuwenig bekommt. Eine übermäßige, besitzergreifende Fürsorge kann ebenso zu Neurosen führen wie mangelnde Zuwendung und Liebe oder fehlende Anerkennung und Aufmerksamkeit. Auch wenn man vor ambivalenten Entscheidungen steht, entstehen Neurosen ...“
Sarah hörte Dr. Hendell nur noch unterschwellig reden. Sie spürte starken Kopfschmerz aufsteigen. Dr. Hendell redete weiter.
„Das Aushalten von Widersprüchen und Ambivalenzen gehört zu den schwierigsten Aufgaben im Leben. So zum Beispiel Liebe und Hass gemeinsam zu ertragen.“
Sarah sah wieder auf. Liebe und Hass? Ja, der ewige Kampf zwischen ihr und seinem Vater – die Liebe und der Hass.
„Auch traumatische Erlebnisse bewältigen zu müssen, sind Auslöser von neurotischen Störungen.“
Sarah dachte plötzlich an seine Träume in der Klinik. Wie gestört mochte er zu dieser Zeit schon gewesen sein? „Gibt es noch andere Auslöser?“, fragte sie flüsternd und überfordert.
„Oh, ja. Auslöser können alle Lebensphasen sein, in denen es zu Um und Neuorientierungen kommt.“
Sarah dachte an den ersten Tag auf dieser Farm. Der Winter brach gerade herein. Hatte ihn zu dieser Zeit sein Leiden schon beherrscht?
Die Uhr zeigte 18.00 Uhr. Die Dämmerung des Abends strömte rötlich und warm in das Arbeitszimmer. Draußen war es immer noch heiß. Das Gespräch mit Dr. Hendell hatte länger gedauert als sie gedacht hatte. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Sie hörte die vielen Fahrzeuge und ihr Gehupe durch das geöffnete Fenster und dachte daran, dass Dane zu dieser Zeit auch immer unterwegs war. Er hatte es nie erwähnt, er hatte sich nie beschwert oder darüber geflucht. Er verarbeitete vieles so anders! Genau, wie Dr. Hendell es ihr erklärt hatte.
„Sarah“, sprach Dr. Hendell sie an. „Es wäre wichtig, dass Ihr Mann bei mir vorspricht. Sehen Sie, sollte es ihm nicht mehr möglich sein, in einem normalen Rahmen zu leben und zu arbeiten, muss er lernen, ehrlich und offen in solchen Momenten, die wir gerade besprochen haben, zu reden. Nur Offenheit kann ein solches Leiden heilen. Wenn er das in einem vertrauten Kreis nicht kann, sollte er sich einer Psychotherapie unterziehen. Dort lernt er, das Leiden zu beherrschen.“
„Wie sieht es mit Medikamenten aus? Gibt es Medikamente dafür?“
„Das wäre die falsche Behandlungsmethode. Sie heilen nicht, sondern decken die Symptome nur zu und führen zu einem Suchtverhalten.“
Sarah nickte. „Ich werde versuchen, ihn zu überzeugen.“
„Gut. Und ich werde versuchen, Ihnen zu helfen. Sie sind wirklich eine bewundernswerte Frau, Sarah.“ Dr. Hendell stand auf und reichte ihr die Hand zum Abschied.
Sarah erwiderte seinen festen Händedruck, der ihr neue
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