Die Scheune (German Edition)
Richtig und Falsch, sowie Moral und Normalität. Es ist uns im Normalfall auch anerzogen. Sobald sich aber etwas ereignet, das sich gegen diese Vorstellungen stellt, etwas Unrichtiges, Unmoralisches oder Anormales, was dir so peinlich ist, dass du es nie und niemanden erzählen möchtest, setzt sich aus Schamgefühlen oder aus Angst vor den Konsequenzen eine Art Verdrängung in Gang. Dein Bewusstsein schließt die Geschehnisse ins Unterbewusstsein, und dort werden sie so fest verbarrikadiert, dass sie für dich unerreichbar werden. Sie sind einfach aus deinem Bewusstsein und deiner Erinnerung verschwunden. Je intensiver du mit Verdrängung arbeitest, je höher der Erfolg, bis zur endgültigen Gedächtnislücke. Alles ist dann nur über die Hypnose zu erreichen oder kommt durch einen Vorfall zutage, der so extrem auf dich wirkt, dass du alles wider deinem Willen ins Gedächtnis lassen musst. Dabei ist die Chance, dass dein Unterbewusstsein dir die Geschichte wieder komplett freigibt, nicht unbedingt gegeben. Du blockierst jede einzelne Erinnerung aus wahnsinniger Angst, dein Gesicht oder deine derzeitige Stellung in der Gesellschaft zu verlieren. Eine Art Fehlleitung bildet sich im Kopf. Du kämpfst gegen eine Erinnerung aus deinem Unterbewusstsein und weißt nicht mehr, was du wirklich willst. Willst du wirklich alles wissen oder ist es besser, alles im Verborgenen zu lassen? Diese Uneinigkeit mit dir selbst macht dir derart zu schaffen, dass du dann Dinge tust, die du gar nicht tun möchtest. Du bekommst regelrecht Befehle von einer zweiten Bewusstseinsebene, die dich fehlleitet. Zum Beispiel eben, diesen Stuhl herumzuwerfen.“
Dane hörte aufmerksam zu. Ich war ihm so unglaublich nahe gekommen und fuhr fort: „Du beginnst einen Kampf mit deinem Unterbewusstsein, verstehst du? Es ist das Wachbewusstsein des nicht gegenwärtigen, seelischen Bereichs, aus dem wesentliche Impulse unseres Handelns und Verhaltens kommen. Aus dem auch der Traum aufsteigt und in den bestimmte, affektbesetzte Erlebnisse verdrängt werden. Ich bezeichne das jetzt einmal als eine Art Schublade. Du willst wissen, was in der Schublade drin ist, aber sie wird dir nicht geöffnet. Sie bleibt zu. Sie wird zu deinem Feind, der ständig darum bemüht ist, dich um deine Erinnerung zu bringen. Du hast aber festgestellt, dass es dir ohne dieses Wissen immer schlechter geht. Du erleidest Gefühlsverstrickungen, aus denen du dich nicht mehr freidenken kannst. Sie hemmen die Lust, die Freude, das Lachen, alles, was dich wieder aufbauen könnte. Eine Art Tiefendepression setzt ein. Du beginnst, dein inneres Ich aufzufordern, dir die verborgenen Erinnerung wiederzugeben. Es passiert aber nicht. Daher schlägst du um dich, rennst mit dem Kopf vor die Wand und legst ein normabweichendes Verhalten an den Tag. Du weiß, dass dein Unterbewusstsein im Kopf sitzt und versuchst es zu verletzen, um es schwach und zugänglich zu machen. Es soll ja mit dir kooperieren. Im Moment gibt es für dich keine Außenwelt, sondern nur eine Innenwelt. Du kämpfst innen im Kopf. Dein Gehirn spielt dir einen bösen Streich, aber du hast dein inneres Ich schon verletzlich gemacht. Es gibt Bruchteile deiner Vergangenheit frei, die du über deine Träume abrufst und wieder erlebst. Aber es versucht immer wieder zu blockieren. Dann wirst du wütend und schlägst auf dich ein, rennst gegen die Wand und schmeißt unbeherrscht Dinge um dich. Es kommt zu psychomotorischen Anfällen, eine Art Dämmerattacke.“
Kaum hatte ich meinen Vortrag beendet, begann er apathisch hin und her zu schaukeln, wobei er beide Arme ineinander verschränkte. Er hatte die Worte ganz tief in sich aufgenommen und begann zu reden: „Ich träumte von der Scheune …“
Die Geschichte seines Traums floss endlos aus ihm heraus. Unterstrichen mit Gesten und Mimik erreichte sie meine tiefste Betroffenheit. Er wirkte auf einmal so ganz anders auf mich, anders, als ich ihn je kennen gelernt hatte. Wo er früher nie so etwas wie Tränen, Traurigkeit oder Depression gezeigt hatte, brach es nun wie eine schäumende Gischt aus ihm heraus. Es drehte mein ganzes Bild von ihm um.
Es dauerte fast dreißig Minuten, bis Dane erschöpft in sich zusammenfiel. Es standen noch viele Fragen offen, aber ich zog es vor, die Sache für heute auf sich beruhen zu lassen, für uns beide.
Ich war mir nie bewusst gewesen, dass mein Freund eine solche Vergangenheit hatte. Doch ich wusste auch nicht, dass es nur die Spitze vom Eisberg
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