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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Eck von Reischach hatte genau das gesagt, was die Leute hören wollten - dass sie durchhalten würden. Er besaß ein Händchen dafür, die Menschen zu begeistern.
    Als sich die Menge in die entsprechenden Einheiten aufzuteilen begann, zogen Rudolph und Lucas das Pferd mit dem Karren weiter zur halbzerschossenen Mehlgrube.
    Eine Detonation ließ den Boden beben und brachte die Häuser um den Platz herum zum Schwanken. Der Krach war so gewaltig, dass Lucas sich auf die Knie fallen ließ und sich die Ohren zuhielt. Trotzdem hatte er ein Fiepen im Kopf.
    Als Lucas wieder aufsah, quoll eine Staubwolke auf den Neuen Markt. Erd- und Steinbrocken flogen durch die Luft sowie weichere, feuchtere Teile, deren Natur sich der Student nicht ausmalen wollte. Er schüttelte die Benommenheit ab, dann erhob er sich vorsichtig. Der Staub ging von der Mauer beim Clarissenkloster aus, das gerade westlich vom Kärntner Tor lag.
Das war kein Kanonenschuss gewesen, sondern viel lauter und kraftvoller. Hatten die Osmanen eine Sprengladung gezündet?
    Schreie gellten über den Platz, die Lucas nicht verstand, dann stürmten die Landsknechte mit den Piken vorwärts, um nachzurücken. Das konnte nur eines bedeuten: Die Mauer war gefallen. Die nächste Reihe Männer hielt sich schon bereit, um die Lücken der Gefallenen zu füllen.
    Wenige Augenblicke später erfolgte eine zweite Explosion. Das Echo des Donners verwarf sich in den Gassen der Stadt und kehrte leicht verzögert zurück. Lucas hielt sich an der Hauswand der Mehlgrube fest, weil der Boden wieder bebte und sein Orientierungssinn ihn für einen kurzen Augenblick im Stich ließ.
    »Lucas!«, schrie Rudolph ein paar Schritte entfernt. Er krümmte sich vor Schmerzen auf dem Boden und presste sich die Hände an den Kopf. Als er sie wieder herunternahm, um sich an den Wänden vor ihm auf die Füße zu ziehen, da sah der Student, dass dem Jungen Blut aus den Ohren quoll.
    Dem Donner folgte vielstimmiges Kanonenfeuer. Das Krachen, das ihn in den letzten Tagen so beeinträchtigt hatte, wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so laut. Trotzdem blieb er im Schutz einer Hauswand, denn die Gefahr der Geschosse war für ihn um ein Vielfaches gefährlicher als die Sprengung der Mauern. Es sei denn, die Türken waren mit ihren Minen unter die Stadt gelangt. Der Gedanke lähmte Lucas einen Augenblick lang. Dann begannen die ersten Einschläge über den Dächern von Wien.
    »Alarm!«, plärrte eine körperlose Stimme über der Stadt. Das musste der Ausguck auf dem Stephansturm mit dem Sprechrohr sein. »Alarm! Der Türke stürmt die Mauern! Alarm!«
    »Der Sturm!«, schrie Lucas Rudolph zu. Der Bursche lief, wieder beide Hände auf die Ohren gepresst, panisch voran. Er
schwankte wie ein Volltrunkener und wirkte völlig orientierungslos.
    »Rudolph, bleib hier! Das ist der Sturm!«, rief Lucas erneut.
    Doch der Bursche hörte nicht. Er prallte auf der anderen Straßenseite gegen eine Hauswand und ließ sich daran wimmernd zu Boden gleiten.
    Lucas musste ihm helfen. Er löste sich selbst aus dem Schutz der Mehlgrube. Doch er kam nicht weit. Eine Kanonenkugel zertrümmerte das Fachwerkhaus, an dem der Junge hockte. Die Mauern brachen mit Dachstuhl und Ziegeln einfach in sich zusammen, und Rudolph verschwand in einer Staubwolke, die innerhalb weniger Augenblicke sämtliche umliegenden Straßenzüge verbarg. Lucas wurde zu Boden geworfen und riss die Hände über den Kopf. Holzstücke regneten auf seinen Rücken nieder, und er musste durch den Stoff seines Mantels atmen, um nicht zu ersticken.
    Seine Ohren dröhnten noch immer, und trotzdem konnte er sich bloß auf sein Gehör verlassen. Der Donner der Kanonen wollte kein Ende nehmen. Jedes Krachen schien ein vielstimmiges Echo zu haben, so nah beieinander lagen die Schüsse. Dazwischen hörte man endlich die Signale, die die Reiterei zum Sammeln auf den Plätzen riefen, und die Befehle der Landsknechte gellten durch die Stadt.
    Endlich wagte Lucas wieder aufzusehen. Unter den Truppen herrschte Chaos, und in den Straßen war kaum noch ein Durchkommen. Der Student fluchte. Seit Tagen warteten sie auf diesen Augenblick, und nun, da er kam, ging mit den Leuten die Angst durch! Jetzt konnte man nur hoffen und beten, dass Gott der Herr Wien wirklich gegen den Ansturm der Türken beistehen würde, so wie Eck von Reischach es versprochen hatte.
    Lucas kniff die Augen zusammen, wischte sich den Staub aus dem Gesicht und raffte sich auf. Er musste dem Jungen

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