Die Schicksalsleserin
eurer Nasenspitze schauen, wenn es um die Wirklichkeit geht«, knurrte Hofer wütend.
»Ich schätze, ich werde Euch genügen müssen, wie ich bin«, gab Lucas wütend zurück und starrte ihn herausfordernd an.
»Wenn der Osmane dir den Arsch unter dem Hintern wegbläst, dann wirst du diese Entscheidung bitter bereuen, Bürschlein! Ich zumindest gehe in diese verdammten Keller zurück, koste es, was es wolle!« Damit stapfte Hofer weg. Und Lucas schlug aus Zorn die nächsten paar Nägel krumm.
Mehrere Stunden später, die Sonne neigte sich bereits dem Nachmittag zu, waren zwei Holzwände fertiggestellt. Rudolph holte den Leiterwagen herbei, und gemeinsam hievten sie beide auf den Stapel schwerer Bohlenwände, die andere Helfer gebaut und daraufgelegt hatten. Das Ganze sollte nun zur Mehlgrube am Neuen Markt, um bereitzustehen, wenn man die Mauer zwischen Kärntner Tor und Stubentor ausbessern musste.
Sie führten das Pferd mit dem Karren die Kärntner Straße hinunter gen Mauer. Der Braune mühte sich durch die aufgerissene Straße und das Gerölle, das hier noch herumlag. Lucas blickte erneut zum Himmel auf. Die Wolken, die sich da oben ballten, mochten einen Wetterwechsel in den nächsten Tagen ankündigen.
Als die beiden Männer mit dem Gefährt auf den Neuen Markt kamen, fand dort offenbar gerade eine Versammlung statt. Landsknechte, Reiterei, aber auch viele Bürger Wiens hatten sich eingefunden. Der Student erkannte die krumme Gestalt Niklas Graf Salms auf seinem Apfelschimmel, gehüllt in Kürass und blaues Wams. Neben ihm saß Eck von Reischach zu Pferde und hielt eine Ansprache.
»Also, lasst nicht den Mut sinken!«, verkündete von Reischach
gerade. »Noch sind die Osmanen nicht über die Mauern gedrungen. Sie gaben uns drei Tage - und wir sind in der dritten Woche! Und auch nächste Woche werden wir die Mauern noch so verteidigen, als sei es der erste Tag!«
Lucas hielt inne. Der Hauptmann hatte Recht. Vor zwei Wochen hatte jeder gedacht, in ein paar Tagen wäre alles vorbei. »Wien steht noch, obwohl der Sultan seine Sklaven peitscht, als sei der Tag des Jüngsten Gerichtes angebrochen. Und warum?« Von Reischach ließ die Frage einen Augenblick lang in der Luft hängen. »Weil Gott auf unserer Seite steht, deshalb!«
Die Leute jubelten. »Vor fünf Tagen habe ich euch versprochen, die eilige Reichshilfe käme bald zur Unterstützung aus Krems herbei.« Sein Tonfall war nun nüchterner. »Jetzt sind diese fünf Tage vergangen, und Friedrich von der Pfalz ist immer noch nicht hier. Doch wir haben die vertrauliche Nachricht erhalten, dass er mit seinen Regimentern bei Krems lagert und innerhalb weniger Stunden hier sein kann! Wir müssen nur noch ein wenig länger aushalten!«
Nicht zum ersten Mal fragte Lucas sich, warum die Eilige Reichshilfe des Kaisers noch nicht eingetroffen war. Wenn diese jetzt, statt direkt nach Wien zu ziehen, bei Krems lagerte, konnte das bloß bedeuten, dass sie nicht groß genug war, um den Ring der türkischen Belagerer aus eigener Kraft zu sprengen. Kein Wunder, dachte der Student bei sich - welche Armee der Welt wäre schon so groß, dass sie diesem Meer an Feinden auch nur ein Stirnrunzeln abringen würde? Doch offenbar war er der Einzige, der sich diese Fragen stellte, denn der Rest der Männer auf dem Platz jubelte wieder.
»Und aushalten werden wir!«, schloss Eck von Reischach. »Denkt immer daran, was geschieht, wenn wir verzagen. Denkt an das, was die Türken mit uns und den Bürgern von Wien tun werden, wenn sie über diese Mauern kommen. Sie werden
den Frauen Schande antun und sie in ihre Hurenharems stecken. Die Männer werden sie auf Haken stecken und elendig verrecken lassen oder ausweiden, wie es ihre Art ist! Die Überlebenden werden sie zum Sport hetzen und niederstrecken, wie es ihnen beliebt! Haltet euch diese Gräueltaten vor Augen. Und dann nährt den Zorn darüber, dass sie es gewagt haben, in die Lande des Kaisers von Gottes Gnaden vorzudringen und sie zu verwüsten! Denn der Kaiser will, dass wir aushalten, und hat uns dazu Graf Salm geschickt!« Die Menge der Soldaten und Bürgersleute brüllte ihre willige Zustimmung, als Niklas Graf Salm eine Faust in die Luft reckte. »Und Gott will es auch!« Noch einmal steigerte sich die Begeisterung. »Also geht mit Gott, Kampfgefährten, und zeigt diesen Ungläubigen, was der Arm eines aufrechten Christen vermag!«
Auch Rudolph brüllte sich die Kehle aus dem Leib. Lucas ließ sich davon anstecken.
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