Die Schicksalsleserin
helfen.
»Rudolph!«, rief Lucas hustend, als er wieder etwas sehen konnte. Er lief voran, auf den Schuttberg zu. Hastig zog er einige Steine und Balken herunter, doch der Schutt von oben rutschte nach. Lucas rettete sich mit einem schnellen Sprung nach hinten. »Rudolph!«
Als sich auch diese Staubwolke gelegt hatte, festigte sich ein Knoten in seinem Hals. Das halbe Haus lag auf dem Burschen. Konnte er das überlebt haben? Lucas eilte erneut zu dem Berg aus Holz und Stein. Entschlossen warf er Brocken über Brocken hinter sich und stemmte so vorsichtig es ging einen Balken empor. Schließlich sah er einen Arm aus dem Schutt ragen. Lucas sah auf den ersten Blick, dass er mehrfach gebrochen war. Unter Aufbietung all seiner Kraft hob er einen weiteren Balken empor und legte ihn auf der Seite ab.
Darunter lag Rudolph. Der Leib war zerschmettert, der Kopf zwischen zwei Steinen zerschellt und eine einzige blutige Masse. Lucas wandte sich ab. Er wich zurück zur Mehlgrube und stützte sich gegen das ebenfalls halbzertrümmerte Gebäude. Dort übergab er sich. Er konnte nicht anders - er musste daran denken, das Rudolph sich heute das erste Mal den Bartflaum von der Oberlippe geschabt hatte, um die Frauen zu beeindrucken. Jetzt war der Junge tot.
»Reiß dich zusammen«, befahl sich der Student selbst. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und taumelte voran.
Der Donner der Kanonen klang wie ein niemals enden wollendes Gewitter. Männer brüllten Befehle oder schrien vor Schmerz, Schreck und Angst. Der Krach von Eisen auf Stein, splitterndem Holz oder des Einschlags vielpfündiger Geschosse kam hinzu.
Auf dem Neuen Markt standen inzwischen Hunderte, wenn nicht Tausende Landsknechte bereit zum Nachrücken. Nirgendwo
sonst gab es genug Platz, um sich zu formieren, damit die gebrüllten Befehle von allen verstanden wurden und man in geballter Formation angreifen konnte. Eine Abteilung Reiterei preschte vorbei, und Verwundete wurden von Helfern und Kampfgefährten fortgebracht. An den Mauern musste der Teufel los sein.
Lucas lief voran, zum Clarissenkloster. An der Ecke gen Kärntner Tor verbarg er sich hinter einer schützenden Ecke und gestattete sich einen Blick auf das Schlachtfeld. Der Anblick raubte ihm für einen Augenblick den Atem. Direkt neben dem Tor klaffte eine Bresche in der Mauer, in die man der Länge nach bequem vier Leiterwagen mit Pferden davor hätte hineinstellen können. Darin standen die Landsknechte mit den Piken und hielten ihre Stellung. Sie stachen und hieben mit den langen tödlichen Klingen in die Masse der Angreifer hinein, die sich auf der anderen Seite formiert hatte. Beim Wirbeln der langen Stangenwaffen wurde Lucas angst und bange um die Kampfgefährten.
Bautrupps hatten einige der improvisierten Wände als Schilde an den Abbruchkanten der Mauer aufgestellt, und weitere wurden herbeigetragen, um so die klaffende Wunde im Verteidigungswall wieder zu schließen.
Im Westen der Bresche klaffte ein weiteres Loch in der Mauer, das sogar noch größer war als dieses. Selbst Lucas erkannte ohne große taktische Schulung, dass man zwei so breite Breschen nicht lange würde halten können. Er zählte schnell die Landsknechte durch, die mit Piken und Arkebusen nebeneinander in die einzelne Bresche passten. Es waren vierundzwanzig. Achtundvierzig Mann, die über das Schicksal Wiens entschieden. Und die Zahl der Janitscharen in ihren roten und grünen Tuniken mit den weißen Kappen draußen vor der Mauer nahm kein Ende.
Sturm war wirklich der richtige Begriff für das, was hier geschah. Die Macht des Sultans brach wie eine Naturgewalt über Wien herein.
Trotz der Übermacht des Feindes kämpften die Landsknechte an der Mauer wie die Löwen. Jetzt zahlte sich aus, dass die Wiener in den letzten Tagen alle Gebäude abgerissen hatten, die in diesem Bereich zu nahe am Kärntner Tor und zu beiden Seiten der Mauer gestanden hatten. Fiel ein Mann doch, getroffen vom Schuss aus der Arkebuse eines Janitscharen oder gefällt von einem wohlgezielten Säbelstreich, standen zwei andere parat, um seinen Platz einzunehmen.
Plötzlich brandete Jubel unter den Männern auf. »Salm!«, riefen sie. »Von Reischach!« Lucas sah sich um. Tatsächlich: Dort kamen die beiden Anführer im Galopp an den Augustinern vorbeigeritten. Hatte Lucas bislang eher Eck von Reischach als den charismatischeren von den beiden gefunden, verblasste der nun beinahe neben dem alten Mann auf dem Apfelschimmel. Hinter ihnen
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