Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
Aufforderung war, auf die Hauptstadt loszugehen und sie bis auf den letzten Stein zu zerstören. Für besonders scharfsinnige Köpfe war das noch wenig! Bald mußten die Vorräte ausgehen. Wenn der Hunger dann das Delirium mit sich brachte, mußte sich die Wut des Pöbels verzehnfachen – dann mußte man auf das Schlimmste gefaßt sein.
Plötzlich beruhigte sich alles. Der Winter war unerwartet schnell hereingebrochen und erkältete die lodernden Gemüter. Und vom grauen Himmel, der wie mit Schnee auswattiert schien, fielen Lawinen unerbittlicher Flocken herab; es war der Vorhang, der nach dem zweiten Akt des Dramas fiel.
Dreizehntes Kapitel.
Ein Schreckenstag.
Die Verirrung der Hostelianer hatte nicht nur einen Stillstand jeder Produktion zur Folge gehabt; die bis aufs Fünffache angewachsene Bevölkerung mußte nun ausschließlich von den ziemlich erschöpften Vorräten leben. Das Elend war groß während des Winters 1893. Während der fünf Monate seiner Dauer leistete der Kawdjer Übermenschliches. Jeden Tag gab es neue Schwierigkeiten zu lösen, immer war den Verhungerten Beistand zu leisten, die unzähligen Kranken mußten gepflegt werden; er sollte mit einem Wort überall gleichzeitig sein. Die Liberier wurden mit Bewunderung erfüllt, als sie die unbeugsame Energie und den unveränderlichen Opfermut des Kawdjer beobachteten und es quälten sie die heftigsten Vorwürfe.
So rächte sich dieser Mann, welcher – sie wußten es jetzt alle – auf eine so glänzende Existenz verzichtet hatte, um ihr mühsames Leben zu teilen, der Mann, den sie so feige verleugnet hatten.
Aber trotz aller Bemühungen des Kawdjer war kaum das zum Leben Nötigste in Liberia aufzutreiben. Wie mußte es auf dem Lande draußen aussehen? Besonders bei den Placers, wo Tausende von Menschen zusammengedrängt lebten, welche sicher keine Vorsichtsmaßregeln getroffen hatten, um die Wintermonate überdauern zu können.
Jetzt war es zu spät, um ihre Unvorsichtigkeit gut zu machen. Sie waren durch den Schnee von der übrigen Insel abgesperrt und konnten nur auf die in ihrer nächsten Umgebung befindlichen Vorräte rechnen. Und diese Vorräte mußten schon in wenigen Tagen aufgezehrt worden sein.
Aber später erfuhr man, daß einige wenige doch die Hindernisse überwunden hatten und weit in die Insel vorgedrungen waren. Zwischen ihnen und den Landleuten war es zu blutigen Einzelkämpfen gekommen.
Die Unbarmherzigkeit der Menschen war größer als die der Natur. Der Winter hatte den Blutstrom, der unausgesetzt die Erde tränkte, vermindert, aber nicht versiegen lassen.
Aber nur wenige wagten sich fort, um es mit der Feindschaft der Menschen und der Natur aufzunehmen. Wie lebten die anderen? Man brachte später in Erfahrung, daß viele an Hunger und Kälte gestorben waren Wie ihre glücklicheren Gefährten ihr Leben fristen konnten, blieb für immer ein Rätsel.
Der Kawdjer brauchte keine Einzelheiten zu kennen, um zu verstehen, welche Qualen diese Unglücklichen durchgemacht hatten. Er erriet ihre Verzweiflung und begriff, daß sich diese im Frühling in Raserei verwandeln müsse. Dann mußte die Gefahr wahrhaft drohend werden; denn, nach dem Schmelzen des Schnees, wurden die Straßen wieder passierbar und dann mußte die verhungerte Menge sich über die Insel zerstreuen und rauben und plündern…
Zwei Tage nach dem Eintritt des Tauwetters erfuhr man, daß das Kontor der »Franco-English Gold Mining Company«, dem der Franzose Maurice Regnauld und der Engländer Alexander Smith vorstanden, durch eine Bande Rasender überfallen worden sei. Aber die beiden jungen Leute hatten sich zu wehren gewußt. Sie hatten ihre aus mehreren Hunderten bestehende Arbeiterschaft versammelt, die Angreifer zurückgeworfen und ihnen bedeutende Verluste beigebracht.
Wieder einige Tage später hörte man von einer Reihe von Verbrechen, deren Schauplatz der Norden der Insel war. Bauernhäuser waren geplündert, ihre Besitzer vertrieben oder erschlagen worden Wenn man dabei ruhig zusah, mußte binnen eines Monates die Insel verwüstet sein. Es mußte gehandelt werden!
Die Lage war bedeutend günstiger als im Vorjahre. Wenn der Frühling auch die Abenteurer zu Ausschreitungen hingerissen hatte, war doch die eigentliche hostelische Bevölkerung unbeeinflußt geblieben.
Die Lektion hatte gewirkt! Mit Ausnahme der hundert Verirrten, die sich geweigert hatten, die Placers zu verlassen und die wahrscheinlich umgekommen waren, hatte die Bevölkerung von Liberia
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