Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
um das Bild der Stadt nicht zu stören. Salome fiel auf, dass die Steine nicht wie üblich kalibriert waren, also passend geklopft und aufeinander gesetzt wurden, sondern durch eine Masse verbunden wurden.
»Das ist Mörtel«, erklärte Timon. »Eine Mischung aus Sand, gebranntem gemahlenem Ton, Wasser und Kalk, die die Steine zusammenhält. Die Masse ist zunächst flüssig und wird durch den Kalk fest. Auf diese Weise muss nicht mehr jeder Stein exakt behauen werden, was viel Zeit spart. Und die Festigkeit der Häuser wird erhöht.«
»Genial«, kommentierte Salome.
»Ja, doch der Verdienst gebührt nicht uns. Die Römer haben den Mörtel kürzlich erfunden.«
»Eine der wenigen sinnvollen Erfindungen, die sie je gemacht haben«, ergänzte Kallisthenes mit schiefem Grinsen. »Das wollen wir doch mal festhalten.«
Salome lehnte sich entspannt an eine Hauswand und schmunzelte Timon zu, der in diesem Augenblick dasselbe wie sie dachte: Ihr Freund Kallisthenes konnte seine Seitenhiebe auf die Römer einfach nicht lassen.
»Ansonsten«, fügte Kallisthenes hinzu, »kümmern die Römer sich nur um die Entwicklung monströser Waffen oder neuartiger Quälereien für die Leute, die sie in die Arenen schicken. Nicht zu glauben, dass Hunderte kluger Köpfe nichts anderes zu tun haben, als den Norden Afrikas zu durchkämmen, auf der Suche nach unbekannten Wildtieren, die sich dafür eignen, auf Gladiatoren losgelassen zu werden und …«
Noch während Kallisthenes sprach, fiel Salome auf, wie feiner Sandstaub scheinbar vom Himmel herabrieselte und auf Timons Haare und Schultern fiel. Sie blickte nach oben – und dann ging alles ganz schnell.
Ein Steinblock kippte, wie von Geisterhand berührt, langsam über den oberen Rand der Hauswand.
Er war schwer, ein mächtiges, massives Quadrat.
Timon bemerkte nichts.
Er hörte Kallisthenes zu.
Kallisthenes sprach weiter.
Über die Römer. Über unheimliche Tiere. Über Arenen. Über den Tod.
Der Block stürzte herunter.
Salome dachte nicht nach.
Sie sprang vor zu Timon.
Sie packte ihn, riss ihn um.
Der Block schlug nur eine Handbreit entfernt von ihnen auf.
Sie schwiegen sekundenlang, alle drei, und starrten auf den Block.
Kallisthenes’ Zunge löste sich als Erstes. »Bei Tyche«, flüsterte er den Namen der griechischen Göttin des Glücks. »Das war haarscharf am Tod vorbei.«
Er kniete sich neben Salome und Timon. »Seid ihr unverletzt?«
Salome nickte. Sprechen konnte sie noch nicht, der Schreck saß zu tief.
»Mein Knie«, sagte Timon, wobei er nur mühsam den Schmerz unterdrücken konnte. »Ich habe es mir beim Sturz aufgeschlagen.«
Mittlerweile waren einige Arbeiter herbeigelaufen und bildeten einen Kreis um die am Boden Liegenden. »Du«, bestimmte Kallisthenes und deutete auf einen Sklaven. »Hole einen Arzt. Beeile dich.«
Mit sorgenvollem Ausdruck wandte er sich wieder Timon zu. »Das ist nun schon das dritte Mal binnen eines Jahres, dass so etwas passiert.«
»Wie bitte?«, rief Salome.
»Es gab zwei weitere Unfälle«, gestand ihr Timon kleinlaut. »Einmal stürzte ein Stapel Wasserfässer auf mich, ein anderes Mal gab ein Balken nach, der mich eigentlich hätte tragen müssen. Ich hatte Glück und wurde nie schwer verletzt.«
»Warum erfahre ich so etwas nicht?«
»Weil ich kein Kind mehr bin«, erwiderte er etwas ärgerlich. »Solche Unfälle kommen nun einmal auf Baustellen vor.«
»Das waren keine Unfälle«, stellte sie fest, und Kallisthenes nickte zustimmend. »Der Steinblock ist bestimmt nicht vom Haus gefallen, weil er schlechte Laune hatte«, fuhr sie fort. »Er wurde gestoßen. Und ich gehe jede Wette ein, dass der Balken angesägt war und die Fässer umgekippt wurden. Jemand möchte dich zu gerne tot sehen.«
Salome stand auf und klopfte sich den Sand vom Gewand. »Und ich werde herausfinden, wer es ist.«
Timons Verletzung war nicht schwerwiegend, wie sich schnell herausstellte, aber für eine Weile würde er eine Krücke benutzen müssen, um das Knie nicht zu belasten. Er hatte in seinem Leben schon so viele Wunden zugefügt bekommen, dass ihm eine weitere nichts ausmachte. Doch da er vorerst nicht reiten konnte, war es für ihn unmöglich, die weiträumigen Arbeiten in Philippi zu beaufsichtigen. Kallisthenes übernahm diese Aufgabe, und Timon war fürs Erste an den Zeichentisch gefesselt.
Salome war indes ganz mit den Nachforschungen über die vermeintlichen Unfälle beschäftigt. Nüchtern listete sie auf, wer für
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