Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
hätten sein dürfen. Jeder Moment mit ihm war ihr kostbar.
»Da sind wir!«, rief Timon, und ihr Blick fiel auf einen Tisch, der mit Obst und Süßspeisen gedeckt war. Er stand inmitten eines kleinen Rondells, und die prallen Früchte und die Kristallgläser schimmerten im warmen Licht einiger Fackeln. Auf dem Boden lagen zwei Schichten dicker Schaffelle ausgebreitet.
»Nun, was sagst du?«, fragte er. »Gefällt es dir?«
Salome war sprachlos. Timon hatte ihr eine zauberhafte Überraschung bereitet. Wer wäre schon auf die Idee gekommen, fünfzig Fuß unter der Erde ein Liebesnest vorzubereiten?
Sie fiel ihm um den Hals. »Danke«, flüsterte sie.
»Hier sind wir endlich einmal völlig ungestört und müssen keine Angst haben, von irgendjemandem entdeckt zu werden.«
»Erst essen und danach … Oder erst …«
»Das zweite«, flüsterte er und umarmte sie mit seiner ganzen Kraft. »Ich liebe dich, Salome.«
»Und ich liebe dich. Mehr als alles andere.«
Erst drei Stunden später, als fast alle Fackeln abgebrannt waren, kamen Salome und Timon wieder an die Oberfläche. Inzwischen stand die Frühlingssonne in ihrem Zenit und brachte den Sandstein der Häuser zum Leuchten. Das matte Gelb tat den Augen jedoch nicht weh, wie es bei den weißen Bauten von Tiberias der Fall war, sondern tauchte die Stadt in ein verklärtes Licht.
Schon häufig war Salome durch die provisorischen Straßen Philippis spaziert, aber noch nie zuvor hatte sie eine Vorstellung der Stadt bekommen können, wie sie einmal aussehen würde. Jetzt war es so weit. Die meisten öffentlichen Gebäude waren fertig gestellt: der kleine Palast mit seinen lichten Sälen, die Agora – der Versammlungsplatz für das Volk – sowie ein Marktplatz rund wie der Vollmond, die Bibliothek mit dem Kuppeldach, das sich wie ein Sternenzelt über Büchern wölben würde, das Theater, das nicht in die Höhe ragte, sondern spektakulär in den Boden eingelassen war, und schließlich ein halbes Dutzend tempelartige Gebäude, die von den verschiedenen Glaubensgruppen, die hier einmal leben würden, in Anspruch genommen werden konnten. Von der Treppe eines dieser Tempel blickten sie über die Ebene, wo noch an den zahlreichen Bürgerhäusern gebaut wurde. Philippi würde tatsächlich, wie von Timon und Kallisthenes versprochen, etwas Besonderes werden, ein Ort der Toleranz und Gleichheit.
»Was hat es mit den vielen kleinen Eisentafeln auf sich, die an den Mauerwerken der öffentlichen Gebäude prangen?«, fragte Salome.
»Wir haben Tausende davon angebracht. In jede Tafel wird der Name eines Arbeiters gebrannt, der an dem Bau der Stadt beteiligt war, gleichgültig welchen Rang er oder sie hatte, Wassermädchen, Kutscher, Steinmetze, Architekten …«
»Eine hervorragende Idee.« Salome lächelte zufrieden.
»Warum sollen immer nur die Auftraggeber und Architekten den Ruhm ernten, haben Kallisthenes und ich uns gedacht.«
»Und es wird keine Stadtmauer geben?«, fragte Salome.
Timon schüttelte den Kopf. »Stattdessen werden wir einen Kranz von Oliven- und Pfirsichbäumen um die Stadt herum pflanzen und entlang der Eingangsstraßen Jasmin.«
»Eine Mauer aus Düften«, rief Salome begeistert aus.
»Es gibt nichts Friedlicheres.« Er trat neben sie und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Bist du glücklich?«
Sie lächelte und wollte sich eben an ihn lehnen, als ein Räuspern sie aufschreckte. Es kam von Kallisthenes.
»Ihr müsst vorsichtiger sein«, mahnte er stirnrunzelnd. »Wenn ich nun eine Wache gewesen wäre oder ein Arbeiter.«
»Schon gut, du hast Recht«, stimmte Timon zu. »Wir haben uns für eine Sekunde vergessen.«
»Solche Schwindsucht kann gefährlich werden«, setzte Kallisthenes nach. »Einen Erpresser werdet ihr mit diesen Erklärungen jedenfalls nicht zu Tränen rühren. Man sollte meinen, ihr hättet euch in den Kanälen genug geliebt.«
Salome und Timon mussten lachen. Kallisthenes klang zwar verärgert, aber er meinte es nur gut mit ihnen, und das wussten sie. In den letzten zwei Jahren hatte er sich mit ihrer Liebe abgefunden, ja, er hatte ihnen sogar mehr als einmal Gelegenheit für ein Zusammensein verschafft. Doch er fühlte sich nach wie vor verantwortlich für Timon und wachte wie ein treuer Hund über ihn.
Zu dritt setzten sie die Besichtigung fort. Die einfachen Bürgerhäuser waren bereits zur Hälfte fertig gestellt, was in der kurzen Zeit eine ungeheure Leistung war. Keines war mehr als drei Stockwerke hoch,
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