Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
und durch glühende Ebenen jedoch erschöpft hatte. Sie öffnete alle Läden, um Licht und Luft hereinzulassen, ordnete frisch geschnittene Myrtenzweige in einer Tonvase an und entzündete Weihrauch in einer Schale, ganz so, als empfange sie einen von langem Feldzug heimgekehrten Gemahl zu Hause. Heute sollten alle Sorgen vergessen sein, mit denen sie sich in den nächsten Monaten würde herumschlagen müssen. Weder Philipp noch Antipas, weder Königstitel noch Prokuratoren oder Kaiser oder murrendes Volk sollten die nächsten Stunden trüben. Als die Diener den Raum verlassen hatten, als sie zum ersten Mal seit Wochen wieder allein mit ihrem Geliebten war, zögerte sie keinen Atemzug lang und schmiegte sich an ihn. Sie sehnte sich nach einer kraftvollen Umarmung und einem warmen Körper, sie streichelte Timons Haut, die um ein Dutzend Narben reicher war, nahm sein Gesicht in die Hände, küsste ihn – und erschrak.
Sie ließ sich nichts anmerken, doch sie spürte deutlich, dass Timons Kuss nicht wie sonst war. Sie konnte es nicht erklären, es war nur so ein Gefühl … Und als sie ihm tief in die Augen blickte, glaubte sie eine gewisse Distanz zu erkennen. So etwas hatte es noch nie zwischen ihnen gegeben, nicht in den Tagen in Ashdod, als sie sich kennen lernten, und auch nicht, als Timon das erste Mal nach Bethsaida gekommen war. Damals hatte er sich zwar distanziert verhalten , seine Augen hatten jedoch Zuneigung ausgedrückt, so deutlich, dass er sie gesenkt halten musste, damit seine wahren Gefühle nicht zu erkennen waren. Heute mied er den Blick nicht. Mit seinen blauen Augen sah er sie offen an, aber etwas Fremdes stand darin, das sich zwischen sie und ihn geschoben hatte.
Philipps Verhalten ihr gegenüber war wesentlich eindeutiger: Er mied sie, wo es ging. Die Besprechungen mit seinen Ministern setzte er so überraschend an, dass sie kaum noch daran teilnehmen konnte, so wie es früher möglich gewesen war, und kündigten sich ausländische Gesandtschaften an, empfing er sie in anderen Städten Basans, in Seleucia, Gamala oder sogar in Raphana, das weit von der Hauptstadt entfernt in den Geröllwüsten der Trachonitis lag. Er arbeitete bis in die Dunkelheit hinein und nahm währenddessen seine Mahlzeiten zu sich. Sie hatten immer schon getrennt geschlafen, nun schlief Philipp noch nicht einmal mehr in seinem eigenen Gemach, so dass sie selten wusste, wo er sich aufhielt. Nathan, sein Sekretär und persönlicher Diener, trieb die Frechheit sogar so weit, ihr auf Nachfrage Auskünfte zu verweigern. Kaum einmal aßen Philipp und sie gemeinsam, und wenn doch, so schwieg er wie ein Möbelstück.
Salome hätte es egal sein können, denn mehr als ein Bündnispartner war Philipp nie für sie gewesen. Sie hatte ihn als Mann nicht wahrgenommen, als Gemahl sogar störend empfunden und nur den Fürsten in ihm respektiert, und das war zu wenig, um den Verlust seiner Gesellschaft zu bedauern. Hätte er sich einfach über sie geärgert, würde ihr das überhaupt nichts anhaben können. Doch er schämte sich ihrer, das war offensichtlich, und dieses Gefühl traf Salome hart. Viele Menschen hatten sie im Laufe ihres Lebens für das verachtet, wofür sie einstand – Kephallion, Zacharias, Theudion, Jehudah -, und sie hatte diese Verachtung stets ertragen, ja, manchmal sogar wie eine Würde empfunden, doch nie hatte man sie vor der Welt verstecken wollen wie eine Aussätzige.
Mit jedem Tag in Bethsaida schwand ihre politische Bedeutung ein Stückchen mehr. Hatte der Hof sie früher als beinahe gleichwertige Herrscherin des Fürstentums angesehen, büßte sie diesen imaginären, auf persönlicher Integrität und Klugheit gründenden Rang vollständig ein. Mehr noch, sie nahm in den Augen der Leute nicht mal mehr die Stellung einer Fürstengemahlin ein, sondern wurde wie eine Konkubine angesehen, die zufällig im Palast wohnte, was an unzähligen Kleinigkeiten zu spüren war. Die Getränke und Speisen wurden nicht mehr so zubereitet, wie sie sie gern hatte; das charosseth war zu süß, der Wein nicht ausreichend verdünnt, das Gemüse bis zum Zerfallen gesotten. Mitten im Hochsommer ließ man ihr ein heißes statt ein erfrischendes Bad ein, und die Öllampen brannten plötzlich mit einem Duft, von dem sie immer schon Kopfschmerzen bekommen hatte. Eine Lüge nach der anderen wurde über sie in Umlauf gebracht. So wurde unter anderem behauptet, eigentlich sei Philipp vom Prokurator zum König bestimmt worden, erst ihr
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