Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
ein Mitglied …« Dann schloss sich die schwere Tür.
Kaiphas erhob sich. »Wir unterbrechen die Verhandlung bis zum Nachmittag. Wenn Rabban Jehudah bis dahin eine Aussage des Griechen Timon beibringt, soll es uns recht sein. Wenn nicht, müssen wir auf der Grundlage dessen, was wir bisher wissen, das Urteil fällen. Bedenkt jedoch«, wies er die Mitglieder des Sanhedrin an, »dass ein Schuldspruch nach unserem Recht auf mindestens zwei Zeugenaussagen beruhen muss. Eine allein reicht nicht.«
Rabban Jehudah sah aus, als sei er entschlossen, diese zweite Zeugenaussage von Timon zu bekommen, auf welche Weise auch immer.
Die Mitglieder des Sanhedrin blieben auch während der Gerichtspause im Saal und debattierten miteinander. Der Prozess war für sie ein weiterer Vorwand, ihre zahlreichen Differenzen auszutragen und die Meinung der jeweils anderen Fraktionen lächerlich, gefährlich oder sogar subversiv zu nennen. Durfte man die Aussagen Ungläubiger tatsächlich als minderwertig abtun? Bot die Nacktheit einer Frau Hinweise auf ihre charakterliche Gesinnung? War eine Jüdin, die die thora nicht anerkannte, weiterhin als Jüdin zu behandeln? Oder musste sie nicht vielmehr als »tot« betrachtet werden, so wie vom Glauben Abgefallene ja auch nicht mehr erben konnten, weil sie wie Tote angesehen wurden? Die Sadduzäer beschuldigten die Pharisäer als extrem, die Pharisäer die Essäer als verweichlicht und die Essäer die Sadduzäer als abgehoben.
Salome lief indes vor der Gerichtshalle auf und ab, bewacht von einer Hand voll speculatores . Nervös lugte sie zwischen den Säulen die Stufen hinab, da immer mehr Menschen eintrafen und auf das Urteil warteten. Weder die Mittagshitze noch die Wachen hielten die Volksmenge davon ab, rege zu spekulieren, ob man die »Hure von Masada« drankriegen würde oder nicht, wobei die meisten lautstark eine Verurteilung forderten. Salome wusste, dass der Sanhedrin sich in seiner Geschichte schon sehr oft von der Volksmeinung hatte beeinflussen lassen, sowohl was die Gesetzgebung wie auch die Rechtsprechung anging. Die Zeichen standen nicht gut für sie. Angewidert vom Anblick der schimpfenden Menschen, spazierte sie auf dem Tempelgelände umher, das neben dem Sanhedrin lag.
Doch auch hier fand sie keine Ruhe. Mehr noch als der Pöbel beunruhigte sie das so genannte Verhör, das Rabban Jehudah mit Timon führen wollte. Warum musste er die Befragung im unterirdischen Gefängnis des Sanhedrin vornehmen? Welche Mittel würde er einsetzen? Womöglich wurde Timon in genau diesem Augenblick vernommen, und sie konnte nichts dagegen tun. Was hatte er ihr zugerufen, bevor man ihn abführte? Etwas über ihre Familie, ja, doch was konnte er damit gemeint haben? Herodias hatte ihren Einfluss auf Rabban Jehudah längst eingebüßt.
Im Schatten der Säulengänge war Salome bis zum südlichen Teil des Tempelbezirks gelangt, wo sich die prächtige Stoa Basilica erhob, eine riesige offene Halle mit mehr als hundertsechzig korinthischen Säulen. Unter ihrem Dach trafen sich gemeinhin die Händler und Geldwechsler, sehr zum Argwohn mancher Juden, die so viel unheiliges Tun im Schatten des Tempels nicht guthießen. Doch seltsam, die Halle war nahezu leer, und die wenigen, die sich in ihr befanden, eilten soeben hinaus. Salome hatte zwar davon gehört, dass vor kurzem ein Prediger sie beschimpft und vertrieben habe, doch selbstverständlich waren die Geschäftemacher rasch wieder zurückgekehrt. Wo aber waren sie in diesem Moment?
Das Geschrei vieler Menschen drang von Ferne heran, und die Wachen, die ihr in einigem Abstand gefolgt waren, wurden von wild gestikulierenden Kameraden abberufen und rannten davon. Salome durchschritt die Stoa Basilica , blickte von deren Südseite in die Unterstadt hinab – und erstarrte. Wie Ameisen strömten unübersehbare Menschenmassen durch die engen Gassen in Richtung Oberstadt und Tempel; ihre Spitze war höchstens noch fünfhundert Schritte von Salome entfernt. »Barabbas, Barabbas«, hallte es zum Himmel, und wenngleich Salome nicht wusste, wer Barabbas war, verstand sie doch, was vor sich ging: Jerusalem befand sich im Aufstand.
Sie rannte, so schnell sie konnte. Ihr schwarzer Kopfschleier fiel zu Boden, doch sie kümmerte sich nicht darum. Ihr Herz raste. Hassten die Leute sie so sehr, dass man sie lynchen wollte?
Für die Wartenden vor dem Sanhedrin kam der Aufstand ebenfalls überraschend. Zuerst dachten sie, dass es einen Tumult gäbe wegen des
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