Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Südwestturm hinauf. Es gab keine bessere Sicht über Jerusalem als von hier oben. Tempelgelände, Herodespalast, Oberstadt, Unterstadt, der Hügel Golgatha, das Griechenviertel, das Hippodrom, die Stationen der speculatores und die meisten Tore konnten mit einem einzigen Rundumblick erfasst werden. Eines wurde Salome sofort deutlich: Jerusalem war nicht länger unter römischer Kontrolle.
Pilatus stand mit einigen niederen Offizieren an der Turmmauer und blickte ängstlich nach unten, wo immer mehr Menschen gegen die Mauern und Tore der Antonia rannten.
»Warum unternimmst du nichts?«, fauchte Salome ihn an.
»Oh, du hast es also geschafft«, erwiderte er lapidar.
»Was nicht dein Verdienst ist. Warum befiehlst du keinen Angriff?«
»So etwas will gut überlegt sein, meine Liebe.«
»Während du überlegst, stürmt das Volk den Sanhedrin und die Gefängnisse. Sieh hin.«
Während einige der Aufrührer die Gerichtshalle stürmten, machten andere sich daran, das Gefängnis zu erobern, um die dortigen Gefangenen zu befreien. Doch der Widerstand der Wachtruppe des Gefängnisses war härter als erwartet. Nur wenige Türen führten in die unterirdischen Verliese, und diese konnten leicht verteidigt werden. In ihrer Wut rollten die Aufständischen Fässer voll mit Pech die Stufen hinab und setzten die auslaufende Masse in Brand. Kein Schreien der Eingeschlossenen weckte ihr Mitleid, Fass auf Fass und Fackel auf Fackel setzten sie das Gefängnis in Brand. Ein wahrer Feuersturm tobte im Innern der Verliese. Gleich lebenden Flammen, stumm vor Schmerz, rannten einige speculatores heraus, vorbei an grölenden Massen, und brachen schließlich wie Feuerholz in sich zusammen.
»Timon ist dort«, schrie Salome den Prokurator an.
»Also wirklich, das ist nicht meine Schuld«, klagte Pilatus beleidigt. »Wenn du nicht mit ihm …«
»Wir halten hier keinen Höflichkeitsschwatz, Pilatus. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Dort drüben geht die jüdische Oberschicht und die Polizei, also die gesamte jüdische Ordnung, in Flammen auf.«
»Sehr betrüblich. Aber dagegen kann ich derzeit nichts tun«, sagte er und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.
»Du kannst einen Angriff befehlen.«
Er trank einen Schluck Wasser aus einem Schlauch, den ihm eine Ordonnanz gebracht hatte. »Meine beiden höchsten Offiziere sind tot.«
»Es werden noch weit mehr Offiziere sterben, wenn du nicht endlich etwas unternimmst .«
»Beim Mars«, fluchte er. »Hier sind wir vorerst sicher, und ich werde nichts tun, was diesen Zustand gefährdet.«
Nun riss ihr der Geduldsfaden. »Wenn euer römischer Kriegsgott sehen könnte, wie die Römer in Jerusalem Krieg führen, würde er sich der Statuen schämen, die ihr von ihm aufstellt«, schrie sie zurück. »Greife endlich an.«
»Ich bin hier immer noch derjenige, der die Befehle gibt.«
»Dann gib sie auch«, presste sie aus Leibeskräften hervor und hämmerte mit ihren Fäusten auf eine Zinne ein, so dass sogar Pilatus und die umstehenden Soldaten zusammenzuckten.
Unsicher blickte Pilatus von einem decurio zum anderen. Mittlerweile brannten auch das Griechenviertel und das Hippodrom, wo Nichtjuden stets ihre sportlichen Wettkämpfe ausgetragen hatten. Es schien nur eine Frage von Stunden, bis die Aufständischen die gesamte Außenmauer Jerusalems besetzt hätten. Dann würde es auch ein Heer von außen schwer haben, die Stadt zurückzuerobern.
»Oh weh, oh weh«, jammerte Pilatus. »Wenn der Kaiser erst einmal davon erfahren hat …«
Salome empfand einen derart gewaltigen Zorn auf diesen Mann, dass sie ihn beinahe an der Kehle gepackt und das Werk der Aufständischen komplettiert hätte. Doch im letzten Moment rief er seine Offiziere zusammen, beriet sich mit ihnen und beschloss tatsächlich einen Ausfall aus der Burg.
Salome war es in diesem Moment egal, dass Pilatus nicht aufgrund seiner Verantwortung für Jerusalem oder die bedrängten Menschen handelte, sondern um mit einer Rückeroberung der Stadt aus eigener Kraft den Kaiser zu beeindrucken oder zu beschwichtigen. Wichtig war, dass endlich etwas geschah.
Während Pilatus sich um die Aufstellung einer Schildkröte kümmerte – wie die Römer eine spezielle Angriffsformation nannten -, wandte Salome sich an einen der Offiziere.
»Du musst Pilatus davon überzeugen, dass er zunächst den Sanhedrin und die Gefängnisse befreit«, bat sie.
»Tut mir Leid, Fürstin«, erwiderte der junge Mann. »Die
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