Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
nördlichen Tore sind vorerst wichtiger. Es wäre strategisch unklug, wenn wir …«
»Ich gebe dir, was du willst«, versprach sie, »und so viel davon, wie du willst.«
Der decurio grinste. »Sehr verlockend, Fürstin. In jeder Beziehung. Aber es geht nicht. Die Gefängnisse des Sanhedrin lohnen keinen riskanten Angriff.«
»Wieso nicht?«
Er deutete mit dem Finger dorthin, wo die Eingänge zu den unterirdischen Verliesen lagen. »Siehst du den schwarzen Qualm? In diesem Gefängnis, Fürstin, hat keiner überlebt.«
21
Die Aufrührer konnten sich noch einige Tage halten, dann brach ihre Revolte zusammen; andere Städte waren ihrem Beispiel nicht gefolgt. Weder Nazareth noch Jericho oder Tiberias wagten, sich zu erheben, ehe die heilige Stadt nicht vollständig frei von Römern war. Römische Kohorten aus Caesarea sowie mit Griechen bestückte Hilfstruppen aus Samaria trafen ein und machten diejenigen nieder, die ihren Widerstand noch nicht aufgegeben hatten, zumeist junge Männer zwischen vierzehn und zwanzig Jahren. Die Älteren hatten sich schon vorher, wie aus einem Rausch erwacht, in ihre Häuser zurückgezogen und beobachteten schuldbewusst aus ihren Fenstern, wie die Leichen weggeräumt wurden: Griechen, Polizeiwachen, Beamte, einige römische Legionäre und Offiziere. Doch die meisten Opfer hatte der Kampf unter ihresgleichen gefordert, etwa einhundert tote Jungen, vierzig ausgewachsene Männer, sogar neun Greise, drei kleine Kinder und zwei Frauen.
»Märtyrer«, erklärten die untergetauchten Hauptleute des Aufstands und nahmen damit ein Wort in den Mund, das in Judäa eigentlich Menschen bezeichnete, die sich lieber das Leben nahmen, als ein Gebot zu übertreten. Aufständische oder gar unschuldig Ermordete so zu nennen war allerdings ungewöhnlich. Dennoch machte das Wort von den Märtyrern die Runde.
Zehn Tage nach Beginn des Aufstandes ging das Leben in Jerusalem wieder weiter wie eh und je. Die Brände waren längst verraucht. Die Händler boten Waren feil, die Priester opferten Lämmer im unversehrten Tempel, das Hämmern der Handwerker und das Klappern der Fuhrkarren lag über der Stadt. Nur dort, wo einst die Gerichtshalle des Sanhedrin gestanden hatte, erhob sich nun ein Hügel aus rußigem Gestein und zerbrochenen Ziegeln.
Salome hatte schon vor neun Tagen, unmittelbar nach der Rückeroberung des Tempelbergs, eine zwanzigköpfige Gruppe bezahlt, die den Trümmerberg abtragen und nach Überlebenden und Opfern suchen sollten. Sie hatten am gleichen Tag zwei Männer lebend geborgen, einen Priester und eine Wache der speculatora , seither aber nur noch Tote gefunden, die oft in einem furchtbaren Zustand waren. Salome war kaum von der Stelle gewichen. Selten ging sie für ein paar Stunden in die Festung Antonia, um einige Stunden zu schlafen, die meiste Zeit verbrachte sie dort, wo sich bis vor kurzem noch die Eingänge zu den Verliesen befanden. Nachts stellte sie Fackeln und Öllampen auf, am Tage sorgte sie für Wasser und Speise für die Arbeiter; nie gab sie die Hoffnung auf, in diesem Feld der Toten auf den lebendigen Timon zu stoßen.
In einer Nacht fand einer der jüdischen Arbeiter eine goldene Kette mit einem winzigen Lapislazuli darin: Timons Kette, zerrissen und schmutzig. Der Arbeiter hatte Salomes Hand genommen und gesagt: »Hier drunten lebt keiner mehr, Frau. Wer nicht verbrannte, der ist erstickt, und wer nicht erstickt ist, den haben die Gesteinsbrocken erschlagen. Und die Leichen, die wir bergen, sind unkenntlich vom Feuer. Es wäre wirklich besser für dich, wenn du nicht mehr als diese Kette finden wirst. Alles andere wäre – schlimm.«
Salome lehnte sich an die Schulter des unbekannten Mannes, und er legte seine Arme um sie und hielt sie fest. Er wusste wohl, wer sie war, und ahnte, um wen sie trauerte. So vieles war über Salome geredet worden, Falsches und Wahres gleichermaßen, und noch vor zehn Tagen hatte er ebenso schlecht über sie gedacht wie die meisten, wenngleich er ihr eine ungewöhnliche Tatkraft zugute hielt. In diesem Moment jedoch fühlte er mit ihr, ja, er konnte seine eigene Rührung nicht verbergen und weinte, weinte um ihre verlorene Liebe, um einen Ungläubigen und um die Sünden, die sie begangen hatte. Sie selbst weinte nicht. Sie konnte nicht. Sie hatte erst ein einziges Mal in ihrem Leben geweint, und das war der Tag ihrer größten Demütigung gewesen, als Kephallion sie verprügelt hatte. Seither weigerte sie sich zu weinen, als könne sie
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